Wenn Sie unter 50 sind und in einem Industrieland leben, haben Sie wahrscheinlich noch keine wirkliche Inflation erlebt. Sind Sie zwischen 50 und 60, kennen sie zumindest keine Teuerung, die echten Schaden angerichtet hat.
Der Ausverkauf von Industrieländeranleihen in den letzten zwei Wochen – zusammen mit dem enormen Energiepreisanstieg, Schlangen an den Tankstellen und Lieferengpässen – könnte aber Grund genug sein, sich mit dem Thema wieder zu befassen.
In den letzten 20 bis 30 Jahren hatte ein vorübergehender Preisanstieg unter anderem bei Lebensmitteln und Energie nie zu einer generell höheren Teuerung geführt. Aber dieses Mal könnte es anders sein, aus vier Gründen:
Energiepreise: Ist der 120-jährige Abwärtstrend vorbei?
In den letzten zwölf Monaten haben sich die Erdgaspreise verdoppelt. Plötzlich scheint uns bewusst zu werden, dass die Dekarbonisierung der Wirtschaft die Energieausgaben von Unternehmen und Verbrauchern erstmals steigen lässt. Abgesehen von einer kurzen Phase in den späten 1970er-Jahren sind die amerikanischen Benzinpreise seit Beginn des 20. Jahrhunderts real immer weiter gefallen. Der Fracking-Boom hielt die Situation durch die 2010er Jahre noch in Grenzen. Doch jetzt, wo der Klimaschutz immer drängender wird, dürfte der 120-jährige Abwärtstrend endgültig vorbei sein.
Die Trendwende muss keineswegs dramatisch sein. Bei einer generellen CO2-Steuer, Anreizen für erneuerbare Energien und marktwirtschaftlichen Lösungen halten wir auch eine schrittweise Energiepreisanpassung für denkbar. Eine bestimmende Politik mit genauen Vorgaben für Unternehmen und Verbraucher könnte den Marktmechanismus aber außer Kraft setzen, sodass wir uns an volatilere Preise gewöhnen müssen. Man darf nicht vergessen, dass der Sieg über die Inflation in den 1980er-Jahren nicht nur durch höhere Zinsen zustande kam, sondern auch durch Deregulierung und weniger Interventionen am Weltenergiemarkt.
Neue Prioritäten
Der zweite Punkt ist, dass China die weltweite Teuerung nicht mehr dämpft.
Im Mai zeigte der neuste Zensus, dass Chinas Bevölkerung altert und kaum wächst – und dass mehr Chinesen in Städten wohnen als je zuvor. Die Erwerbstätigenzahl wächst nicht mehr. Deshalb legt die Regierung bei ihrer neuen Sozial- und Regulierungspolitik so viel Wert auf Gleichheit, Gesundheit, Umweltschutz, Autarkie und Automatisierung – anstelle eines Wirtschaftswachstums, das Arbeitsplätze schafft. China wird demnächst keine Billigprodukte für den Export mehr produzieren, sondern Hochtechnologie für den Inlandsmarkt. Davon sind wir überzeugt.
Drittens ist die Geldpolitik heute so politisch wie seit 30 oder 40 Jahren nicht mehr. Schon zu Jahresbeginn haben wir uns gefragt, ob die Notenbanken noch unabhängig sind. Dabei denken wir nicht nur an die großen Interventionen während der internationalen Finanzkrise und der COVID-19-Pandemie. Geändert haben sich auch die Mandate, implizit und explizit. Hinzugekommen sind soziale Ziele wie die Finanzierung einer nachhaltigen Infrastruktur, Vollbeschäftigung, soziale Gerechtigkeit und die Unterstützung der expansiven Fiskalpolitik. All das scheint heute wichtiger als Preisstabilität.
Schmerzhaft
Letztlich, selbst wenn Corona die Lieferketten nur vorübergehend stört, wie uns die Notenbanken immer wieder versichern, sind langfristige Folgen nicht auszuschließen.
Wenn wir mit Unternehmen über Logistik, Halbleiter und Rohstoffpreise sprechen, hören wir oft, dass die Lieferkettenprobleme wohl bis weit in den Sommer 2022 anhalten – und bei jedem neuen Treffen nennen sie einen späteren Termin.
Und diese Probleme sind teuer: Der Transport eines 40-Fuß-Containers von Asien in die USA kostet etwa 20.000 US-Dollar, gegenüber gerade einmal 2.000 US-Dollar vor der Pandemie. Die Rohstoffe für die Produktion eines Autos sind letztes Jahr um etwa 2.000 US-Dollar teurer geworden, und die Rohstoffkosten eines Reifen haben sich sogar verdoppelt. Aufgrund der Halbleiterknappheit hat IHS Markit seine Prognose für die weltweite PKW-Produktion in diesem Jahr im September erneut gesenkt, von 14% Wachstum im Dezember 2020 und 12% im Mai auf zuletzt weniger als 2%.
Natürlich kann sich all das auch wieder ändern. Die Folgen für die Unternehmen sind aber so gravierend, dass die Geschäftsleitungen eine Wiederholung der Probleme unbedingt vermeiden wollen. Dazu restrukturieren und diversifizieren sie ihre Lieferketten und beziehen mehr Vorprodukte vor Ort. Umfrage nach Umfrage bestätigt, dass Stabilität und Berechenbarkeit jetzt wichtiger sind als Effizienzgewinne. Aus einem vorübergehenden Preisanstieg können dann strukturell leicht höhere Kosten werden.
Sinnvoll und notwendig – aber anders
Wir halten diese neuen Prioritäten – stabilere Lieferketten, eine nachhaltigere Wirtschaft in China, Dekarbonisierung, soziale Gerechtigkeit – für sinnvoll und notwendig, aber das sind nicht die Ziele der letzten 40 Jahre. Die Investoren müssen sich daher genau überlegen, was zu tun ist.
Zurzeit haben viele Unternehmen das vertragliche Recht, Kostensteigerungen weiterzugeben. Der Nachfragestau, die enormen Ersparnisse der Haushalte und die Barmittelbestände der Unternehmen tragen ebenfalls zur Inflation bei. Ein Großteil der höheren Kosten kann an die Endverbraucher weitergereicht werden. Wenn die Inflation dann aber stärker und nachhaltiger steigt als in den letzten Jahrzehnten und die Notenbanken nur langsam darauf reagieren, könnten sich die Nachfragemuster ändern. Viele Verträge würden dann neu verhandelt werden.
All dies hat Folgen für die Gewinne und die Kreditwürdigkeit vieler Unternehmen. Wir schreiben schon länger, dass die Anleiherenditen wohl steigen werden. Seit Jahresbeginn haben wir immer wieder betont, dass die Inflation im neuen Konjunkturzyklus und auch danach selbst dann ein wichtiges Thema bleibt, wenn die Preise in nächster Zeit recht stabil bleiben. Vielleicht bezeichnet man die Berufseinsteiger von heute ja einmal als die Generation Inflation.
Brad Tank, Chief Investment Officer – Fixed Income, NB