Es klingt wie aus einer anderen Zeit: Vor nur sieben Wochen berichteten zwei meiner Kollegen aus der Aktien- und Datenanalyse an dieser Stelle über einige bemerkenswerte Fakten.
Die Angst vor der Delta-Variante war so groß wie nie zuvor. Neben ihrer schnellen Ausbreitung fürchtete man neue Mutationen, gegen die die Impfungen weniger gut wirken. Wir verwiesen stattdessen auf die Daten. Wir meinten, dass die Fallzahlen in den USA „innerhalb einer Woche ihren Höhepunkt erreichen“ könnten. Tatsächlich ging die Sieben-Tage-Inzidenz zwölf Tage später wieder zurück.
Am Tag der Veröffentlichung markierte der S&P 500 ein neues Allzeithoch – und die Aktienmarktvolatilität fiel auf ihr letztes Tief. Als die COVID-19-Inzidenz wieder zu fallen begann, schrieb ich dann über die bevorstehende “October Surprise” Oktoberüberraschung eines drohenden Kursrutschs. Ausgerechnet jetzt, wo der vielleicht gravierendste Einschnitt in der Wirtschaftsgeschichte der letzten 75 Jahre endlich hinter uns zu liegen schien, plagten die Investoren Zukunftssorgen.
Was ist der Grund? Vielleicht glauben wir wirklich, dass das Schlimmste hinter uns liegt. Aber einen derart großen Schock zu verarbeiten, braucht Zeit, und natürlich gibt es ein Auf und Ab. Hinzu kommt, dass Corona die Welt nicht einfacher gemacht hat. Das gilt für konjunkturelle und strukturelle Entwicklungen gleichermaßen.
Weniger geld- und fiskalpolitische Hilfen
Wir meinen, dass sich die Märkte an das Ende der geld- und fiskalpolitischen Notfallmaßnahmen erst einmal gewöhnen müssen.
Die US-Regierung wird zwar weiterhin mehr Geld ausgeben, und aus dem EU-Wiederaufbaufonds werden erste Projekte finanziert. Alles in allem dürfte der Fiskalimpuls 2022 aber negativ werden, nachdem er 2020 und 2021 deutlich positiv war.
Die Notenbanken werden schon in wenigen Monaten ihre Anleihenkäufe verringern. Ich bezweifle zwar, dass es in den USA wirklich so schnell geht, doch rechnen die Märkte jetzt bereits im 3. Quartal 2022 mit dem ersten Zinsschritt – und damit wesentlich früher als bisher. Die Bank of England dürfte ihren Leitzins schon vor Weihnachten anheben, und in Norwegen und Neuseeland haben die Notenbanken bereits reagiert. Auch in Südkorea, Brasilien, Tschechien und anderen Emerging Markets wurden die Leitzinsen angehoben.
Angebots- und Nachfrageschock
Vielleicht steht uns auch eine längerfristige Anpassung bevor, weil die Langfristfolgen von COVID-19 Angebot und Nachfrage gleichermaßen betreffen.
Der erste Schock war negativ, beim Angebot wie der Nachfrage: Beides brach ein, da die Lockdowns die Weltwirtschaft faktisch schlossen. Dann kamen positive Schocks: Die staatlichen Hilfsmaßnahmen und der Neustart sorgten für eine enorme Nachfrageerholung. Doch wie die aktuelle Inflationsentwicklung zeigt, konnte das Angebot damit nicht Schritt halten – wegen der langen Produktionszeiten in der Industrie, der großen Verwerfungen an den Arbeitsmärkten und der Lieferengpässe.
Das schwächere Beschäftigungswachstum in den USA und die steigenden Löhne zeigen, wie groß die Knappheiten am Arbeitsmarkt sind. Die Lage könnte sich etwas bessern, wenn die Staatshilfen auslaufen, doch offensichtlich machen sich zurzeit viele Menschen Gedanken über ihr Berufsleben. Vielleicht gehen sie früher in Rente, nehmen eine Auszeit, ziehen um, lassen sich umschulen oder haben einfach nur neue Prioritäten. Von 2015 bis Corona ist die Partizipationsquote am US-Arbeitsmarkt langsam, aber sicher gestiegen. Aber jetzt ist sie noch immer zwei Prozentpunkte niedriger als im Januar 2020, obwohl es immer mehr offene Stellen gibt.
Energiemangel, immer höhere Rohstoffpreise und Häfen voller Containerschiffe, die darauf warten, gelöscht zu werden – all das zeigt, wie groß die Angebotsstörungen sind, während sich die Nachfrage von der Pandemie erholt. Aber nichts muss ewig so sein. LKW-Fahrer, Seemänner und Servicetechniker werden irgendwann wieder arbeiten. Doch wie Brad Tank bereits schrieb, reagieren Unternehmen auf kurzfristige Störungen mit langfristigen Maßnahmen, damit sich so etwas nicht wiederholt. Dazu zählen Diversifikation, Repatriierung, Automatisierung, der Aufbau von Reservekapazitäten und ein Bewusstsein für die Anforderungen von Kunden, die ähnlich denken.
Wie in den Siebzigern
Statt einem großen Werk in China planen viele Industrieunternehmen jetzt zwei oder drei Fabriken in verschiedenen asiatischen Ländern, um beim Ausfall einer Fabrik weiter produzieren zu können. Manche Unternehmen verlagern die Produktion dichter an ihren Heimatmarkt, um in Krisenzeiten schneller eingreifen zu können, und wieder andere verabschieden sich vom strengen Just-in-Time-Prinzip. Sie halten höhere Lagerbestände, um auf Lieferengpässe vorbereitet zu sein. Oder man forciert die Automatisierung, um Arbeitskosten zu sparen und die Folgen zukünftiger Pandemien abzumildern.
Hinzu kommen die großen Investmentthemen unserer Zeit, vom Internet der Dinge bis zur Neuindustrialisierung ganzer Regionen. Insgesamt wird die Wirtschaft davon aber erst später profitieren. Bis dahin könnte der Wandel Wachstum und Gewinnpotenzial der Unternehmen schwächen, Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage fördern und Inflationsdruck erzeugen. Größere Lagerbestände wirken wie eine Rückkehr in die 1970er, und vielleicht gibt es dann so wie damals auch wieder mehr Konjunkturschwankungen.
Probleme macht auch China. Gerade erst hat die Staatsführung angekündigt, nicht mehr so sehr auf Wachstum durch Infrastruktur, Immobilien und billige Industrieprodukte zu setzen, sondern eine schwächere Expansion zu akzeptieren – um autark zu werden und „Wohlstand für alle“ zu erreichen.
Kurzfristig ist das nicht ohne Risiken. Das zeigt sich etwa bei den Finanzproblemen von Immobilienunternehmen wie Evergrande, Modern Land und Sinic Holdings. Chinas neue Politik wird langfristig wohl etwas weniger Wachstum und etwas mehr Inflation bedeuten, als wir es seit dem Beitritt zur Welthandelsorganisation vor 20 Jahren gewöhnt sind. Nicht zu vergessen sind auch die höheren weltpolitischen Risiken.
Ganz neue Rahmenbedingungen
Viele Investoren ziehen deshalb jetzt Bilanz.
Die Märkte haben einen Großteil der kurzfristigen Sorgen vor einer neuen Coronakrise hinter sich gelassen. Aber jetzt drohen eine schwächere Konjunktur und straffere Finanzbedingungen. Längerfristig fürchtet man weniger Wachstum und stärkere Konjunkturschwankungen, eine höhere Inflation, steigende Zinsen und Deglobalisierung.
Das hätte nicht mehr viel mit dem Umfeld zu tun, das wir aus den letzten 40 Jahren kennen. Wie Erik Knutzen letzte Woche schrieb, werden die Investoren wohl etwas Zeit brauchen, um sich daran zu gewöhnen. Bis zum Jahresende wird uns die Volatilität erhalten bleiben, wenn nicht länger. Die ganz große Krise ist vermutlich vorbei, aber die Anlageentscheidungen werden deshalb nicht einfacher.
Joseph V. Amato, President und Chief Investment Officer – Equities, Neuberger Berman