Verschärfte Umweltauflagen und geringe Investitionen in Grundlastkapazitäten erfordern es, Europas Taxonomie-Kriterien zu überdenken, um einen nahtlosen Übergang zu einer klimaneutralen Zukunft zu schaffen.
Der jüngste Anstieg der Gas- und Strompreise offenbart in Europa ein immer fragileres Energiesystem. Die fortschreitende Schließung von Kohle- und Kernkraftwerken und erhöhter Druck am Kohlenstoffmarkt führen dazu, dass Europa immer stärker auf Erdgas angewiesen ist. Dabei stammen allerdings bis zu 60 Prozent des Erdgases aus Importen – das wirft Fragen über die Gesamtanfälligkeit des Systems auf. Wäre der Gasmarkt in Europa vor einigen Jahren ähnlich angespannt gewesen, hätte der Versorgungssektor – auf den 34 Prozent der Gasnachfrage in Europa entfallen – die Gasnachfrage heruntergefahren. Die höheren Gaspreise hätten dann Anreize für kohlenstoffintensivere Alternativbrennstoffe für die Stromerzeugung geboten.
Dazu ist es in der gegenwärtigen Situation nicht gekommen. Zum Teil ist das auf einen anziehenden Kohlenstoffmarkt in Europa zurückzuführen: Sind die Erdgaspreise heute höher als die Preise für Kohle – sei es, weil sie im Vergleich stärker steigen oder weniger fallen – bietet das Anreize für die Kohleverstromung. Aufgrund des höheren Kohlenstoffgehalts in der Kohle steigt damit einhergehend die Nachfrage nach Kohlenstoffzertifikaten. Dadurch steigen dann wiederum die Kohlenstoffpreise, bis schließlich ein Ausweichen auf diese Brennstoffe nicht mehr rentabel ist und Erdgas wieder bevorzugt wird. Das bedeutet, dass die Preise auf einem angespannten Gasmarkt theoretisch so lange steigen könnten, bis die Nachfrage an anderer Stelle in der Wirtschaft gedrosselt wird – beispielsweise in energieintensiven Industrien wie der Düngemittel-, Glas- oder Stahlproduktion. Das könnte sich wiederum auf die gesamte Wirtschaft auswirken. Vor diesem Hintergrund wird es für Europa immer schwieriger, die zunehmende Abhängigkeit von Gasimporten mit strengeren Umweltauflagen in Einklang zu bringen.
Niemand möchte zu dem alten kohlenstoffintensiven Energiesystem zurückkehren. Europas Lösung für die mangelnde Selbstversorgung besteht darin, den Einsatz erneuerbarer Energieerzeugung zu beschleunigen. Sie wird weitgehend als deflationär für die Energiekosten angesehen, während sie gleichzeitig Europas Abhängigkeit von Gas verringert und die Kohlenstoffemissionen begrenzt. Bei Neuberger Berman geht man davon aus, dass sich der Einsatz erneuerbarer Energieerzeugung in den nächsten zehn Jahren im Vergleich zum letzten Jahrzehnt um den Faktor drei oder vier steigert. Dennoch: Trotz der ehrgeizigen Pläne für erneuerbare Energie sind erhebliche Investitionen in andere Quellen der Grundlastkapazität erforderlich. Der erste Schritt könnte darin bestehen, dass Europa die Kernenergie im Rahmen der EU-Taxonomie als praktikable kohlenstofffreie Alternative anerkennt. Eine weitere Möglichkeit wäre, Erdgas als Übergangskraftstoff anzuerkennen, um Anreize für ausreichende Investitionen zu schaffen und die Abhängigkeit von geopolitischen Fragen sowie der globalen Angebots-Nachfrage-Dynamik zu verringern. Gleichzeitig könnte so die Lücke zwischen den Energiesystemen der Vergangenheit und den klimaneutralen Lösungen von morgen überbrückt werden.
Bei Neuberger Berman ist man davon überzeugt, dass diese übergreifenden Trends nachhaltige, langfristige Investitionsmöglichkeiten in Unternehmen bieten, die zum Aufbau eines robusten kohlenstofffreien Energiesystems beitragen. Sie bieten Chancen, jahrzehntelang von einer beschleunigten Energiewende zu profitieren. Die großen Gewinner der heutigen Volatilität des Energiemarktes sind die Betreiber von Kernkraftwerken, die Entwickler erneuerbarer Energien und Unternehmen, die in die Widerstandsfähigkeit der Energiesysteme investieren.
Linus Claesson, Senior Research Analyst bei Neuberger Berman