Die Zweifel wachsen, dass die Inflation moderat bleibt und bald wieder zurückgeht. Die Zahlen der letzten Woche sprechen für eine steigende Teuerung, die immer mehr Gütergruppen erfasst.
Weltweit finden die Notenbanken angesichts der Wirtschafts- und Marktentwicklung immer seltener die richtigen Worte, und die jüngsten Zahlen machen es ihnen nicht leichter. Zusätzliche Herausforderungen sind die Ursachen der Inflation und die begrenzten Möglichkeiten der Geldpolitik.
Wie wir letzte Woche in unseren „Zehn Themen für 2022“ geschrieben haben, wird die Marktentwicklung in den nächsten zwölf Monaten wohl stark davon abhängen, ob die Inflation nachlässt und die Geldpolitik wieder berechenbarer wird. Wegen der derzeitigen Risiken halten wir es für immer wichtiger, sich auf Marktvolatilität und steigende Preise vorzubereiten
Schockwellen
Schon vor der Veröffentlichung des US-Verbraucherpreisindex am Mittwoch hatte es sich angedeutet: Nach der Verbraucherumfrage der New York Fed waren die 12-Monats-Inflationserwartungen auf ein neues Hoch von 5,7% gestiegen, und der Produzentenpreisindex hatte um 8,6% z.Vj. zulegt. Und doch war die Verbraucherpreisinflation mit 6,2% z.Vj. extrem.
Seit 30 Jahren war sie nicht mehr so hoch, und eine längere Zeit mit einer solchen Teuerung liegt schon 40 Jahre zurück. Auch scheint die Inflation immer weiter zuzunehmen. Gegenüber dem Vormonat sind die Preise so stark gestiegen wie seit 2008 nicht mehr. Hoch ist der Inflationsdruck vor allem in Gütergruppen, die den langfristigen Preistrend abbilden. Dazu zählen etwa Wohnkosten und kalkulatorische Mieten der Hauseigentümer, die so stark zulegten wie seit 15 Jahren nicht mehr. Der „gestutzte“ Mittelwert der Cleveland Fed und die Median-Verbraucherpreisinflation sind so hoch wie seit 40 Jahren nicht mehr. Die Fünfjahres-Break-even-Inflation, also die Inflationserwartungen, sind in den USA erstmals über 3% gestiegen.
Ausserhalb der USA sieht es ähnlich aus. Im Euroraum beträgt die Produzentenpreisinflation 16%. Letzten Donnerstag ist der japanische Produzentenpreisindex um 8% gestiegen, ein weiteres 40-Jahres-Hoch, und der chinesische um 13,5%, so stark wie zuletzt Mitte der 1990er-Jahre. Die südkoreanischen Importpreise legten um 35,8% zu, der größte Anstieg seit 2008.
Alles in allem scheint die Inflation zurzeit weder vorübergehend noch regional begrenzt zu sein.
Werden die Notenbanken handeln?
Die Herausforderungen für die Notenbanken werden noch deutlicher, wenn man sich weitere Rekorde vor Augen führt, diesmal bei den Zinsen und Anleiherenditen. Die Realzinsen amerikanischer Staatsanleihen sind in allen Laufzeitbereichen niedrig wie nie – und eine reale Federal Funds Rate unter 6% hat noch niemand von uns erlebt, nicht einmal in den 1970ern.
Das zeigt, wie expansiv die Geldpolitik ist. Das Risiko einer gefährlich lockeren Geldpolitik und einer womöglich nötigen drastischen Korrektur ist nicht zu leugnen. Der US-Anleihemarkt reagierte auf die hohen Inflationszahlen vom letzten Mittwoch, indem eine Leitzinserhöhung im Juli jetzt für noch wahrscheinlicher gehalten wird. Außerdem wurde die Zinsstrukturkurve so flach wie zuletzt auf dem Höhepunkt der Coronakrise im März 2020.
Werden die Notenbanken also handeln? Zurzeit stemmt sich nur die Europäische Zentralbank kompromisslos gegen den Markt. Andere Notenbanken beruhigen und signalisieren eine größere Bereitschaft zu einer strafferen Geldpolitik. Da ihr Inflationsziel gefährdet ist, spielt die Fed auf Zeit, indem sie Vollbeschäftigung jetzt etwas anders definiert. Doch nach den jüngsten sehr guten US-Arbeitsmarktdaten und den vielen Kündigungen durch Mitarbeiter könnte auch hier die Zeit drängen.
Wie aber sagte Andrew Bailey, Gouverneur der Bank of England? Eine straffere Geldpolitik zaubert nicht mehr LKW-Fahrer herbei. Wenn die Inflation so sehr die Folge von Angebotsengpässen ist, hat es die Geldpolitik nicht leicht. Man will keinen Nachfrageeinbruch und keine unnötige Rezession provozieren. Einfach abwarten, mit der Folge eines massiven Inflationsanstiegs, scheint aber ebenfalls problematisch.
Zykliker, Substanzwerte, Dividenden
Die hohe Unsicherheit erschwert auch die Portfoliokonstruktion. Dennoch glauben wir, dass man mit gewissen Anpassungen die Verlustrisiken verringern und der steigenden Inflation etwas entgegensetzen kann.
Eine galoppierende Inflation war noch nie gut für Aktien. Als letzte Woche der Verbraucherpreisindex veröffentlicht wurde, endete eine lange Gewinnphase des S&P 500. Die weniger zinssensitiven Zykliker und Substanzwerte hielten sich aber besser, und europäische sowie japanische Aktien legten sogar zu. Wir glauben, dass diese Märkte und Marktsegmente langfristig von einer höheren Teuerung profitieren können.
Hinzu kommt, dass die Dividenden real sogar gestiegen sind. Unternehmen mit regelmäßigen Ausschüttungen waren in der Vergangenheit stets weniger risikoanfällig. Nach zehn Jahren Minderertrag zählen sie jetzt zu den wenigen recht attraktiv bewerteten Titeln.
Wir rechnen auch nicht mit einem ungeordneten Ausverkauf am Anleihenmarkt. Die Realrenditen sind so extrem niedrig, dass die Nominalrenditen wohl auch dann noch steigen, wenn die Inflation in den nächsten Monaten nachlässt. Wir meinen, dass Investoren flexibel sein müssen – und auch in Nischenmärkte investieren sollten. Dazu zählen etwa kurz laufende Credits, variabel verzinsliche Loans, Hybridanleihen und chinesische Anleihen.
Mehr Vielfalt im Portfolio
Vor allem aber sprechen die jüngsten Zahlen unserer Ansicht nach für einen größeren Portfolioanteil alternativer Assetklassen, wie wir in unseren „Zehn Themen für 2022“ schreiben. Wenn Anleihen und Aktien zu teuer sind, könnten nicht börsennotierte Titel und ausgewählte liquide alternative Strategien interessant werden. Aussichtsreich scheinen uns auch Marktsegmente zu sein, deren Erträge meist über der Inflationsrate lagen.
Ein Beispiel sind Rohstoffe. Die Energiepreise scheinen wieder etwas nachzugeben, aber die Edelmetallpreise steigen angesichts der zunehmenden Inflation. Mit Edelmetallen kann man sich mitunter vor einer anhaltenden Teuerung schützen. Börsennotierte und nicht börsennotierte Immobilien – Sachwerte mit indexierten Mieten – verzeichneten meist ebenfalls Erträge über der langfristigen Teuerung. Auch Währungsstrategien können dann interessant sein; die hohe implizite Wechselkursvolatilität sorgt vielleicht für einen guten Einstiegszeitpunkt.
Wir glauben, dass man auf diese Weise der Unsicherheit und Volatilität und vielleicht auch nachhaltigeren Verbraucherpreisschocks in den nächsten Monaten etwas entgegensetzen kann. Letztlich erwarten wir zwar eine höhere und anhaltendere, aber keine wirklich extreme Inflation. Und doch kann die Teuerung die Geldpolitik 2022 aus dem Gleichgewicht bringen. Damit unsere Portfolios nicht auch aus dem Gleichgewicht geraten, raten wir eine zu einer klugen Diversifikation.
Erik Knutzen, Chief Investment Officer – Multi-Asset Class, Neuberger Berman