„Kaum etwas ist riskanter als Konsens“, schrieb Erik Knutzen in seinen allerersten CIO Weekly Perspectives des Jahres.
„Zu Jahresbeginn scheinen die Einschätzungen der Investoren und Analysten so homogen wie seit Jahren nicht mehr. Alle rechnen mit einem Aufschwung, von dem risikoreichere Anlageklassen nur profitieren können.“
Anfang 2021 schrieb ein Kapitalmarktausblick nach dem anderen über die dazu passenden Konsenspositionen. Man setzte auf eine steilere Zinsstrukturkurve, verkaufte lang laufende Staatsanleihen und den Dollar, kaufte Zykliker, Substanzwerte, Small Caps und nicht amerikanische Aktien. Defensive Aktien, Wachstumstitel und amerikanische Large Caps wurden verkauft.
Drei bis vier Monate lang ging das meist gut. Aber dann änderte sich die Lage. Als die Fed in ihrem Dot Plot vom Juni erstmals Leitzinserhöhungen für 2023 in Aussicht stellte, lagen manche Konsenspositionen plötzlich stark im Minus. Die Zinsstrukturkurve wollte einfach nicht steiler werden – im Gegenteil.
Für uns kam es wenig überraschend, dass so viele Investoren auf dem falschen Fuß erwischt wurden. Es war ja richtig gewesen, eine Reflation und damit auch frühere Leitzinserhöhungen zu erwarten. Wie konnte es also zu einer solchen Diskrepanz zwischen den Fundamentaldaten und den Konsenspositionen vom Jahresanfang kommen?
Wer wissen will, was 2022 und danach zu erwarten ist, muss die Gründe dafür kennen.
Realzins und Leitzinserwartungen: Rückgang statt Anstieg
Wir meinen, dass sich diese unterschiedliche Entwicklung von Konjunktur und Märkten mit dem Realzins erklären lässt. Er sollte eigentlich vom neutralen Leitzins abhängen, bei dem Vollbeschäftigung herrscht, die Kapazitäten voll ausgelastet sind und die Inflation stabil bleibt. Ist der neutrale Leitzins erreicht, heben die Notenbanken die Zinsen in der Regel nicht weiter an.
Anfang 2021 war der Realzins negativ, und man rechnete mit einem Leitzinsmaximum von 2,5%. In diesem Konsens-Reflationsszenario ging man davon aus, dass auch der Realzins entsprechend steigen würde. Das war einer der wichtigsten Gründe für die Konsenspositionen vom Jahresbeginn. Oft wurde auf eine kurze Duration gesetzt, mit einer niedrigen oder negativen Zinssensitivität.
Als die Fed dann aber im Juni eine Verringerung ihrer Anleihenkäufe und Zinserhöhungen in Aussicht stellte, stieg der Realzins nicht, sondern ging überraschend stark zurück. Dies lag auch an den steigenden Inflationserwartungen. Die fallenden Nominalzinsen spielten aber ebenfalls eine Rolle. Heute rechnet man kaum noch mit einem höheren neutralen Leitzins und schon gar nicht mit 2,5%. Jetzt werden nur noch Zinserhöhungen auf 1,6% erwartet.
In einem weiteren Beitrag dieser Reihe werden wird das genauer untersuchen. Zweifellos haben aber viele Investoren kapituliert, die auf diese frühen Konsenspositionen gesetzt hatten.
Zwei sehr verschiedene Szenarien
Was genau diesen Rückgang des Realzinses und der Leitzinserwartungen ausgelöst hat, ist umstritten. Auf jeden Fall gab es mehrere Gründe. Ins Feld geführt werden strukturelle Ursachen wie die Demografie, Chinas neue Wirtschaftspolitik, der Renditebedarf von Pensionsfonds und die weltweite Sparschwemme. Andere Erklärungen sind konjunkturell: Die Inflation sei vorübergehend, ausgelöst durch Angebotsknappheiten, und der nächste Zinserhöhungszyklus werde daher kurz sein.
Wie auch immer – 2021 hat gezeigt, dass der aktuelle Konjunkturzyklus ganz anders ist als frühere. Die alten Rezepte scheinen nicht mehr zu passen.
Klassischerweise würde man bei der derzeitigen Wirtschaftslage Leitzinserhöhungen auf 2,0% bis 2,5% erwarten, wie Anfang 2021 angenommen. Bei langfristig 2,0% bis 2,5% Wachstum würde der Realzins dann unverändert bleiben oder steigen. Wenn aber die Leitzinsen nur auf 1,5% angehoben werden und die Wirtschaft um 2,0%–2,5% wächst, wäre der Realzins weiter negativ, -50 bis -100 Basispunkte. Wie die beiden so verschiedenen Jahreshälften dieses Jahr gezeigt haben, entwickeln sich die Assetklassen dann aber ganz anders.
Aber wie wird es 2022 und danach aussehen?
Was sagt die Fed?
Wir glauben, dass Chairman Powell letzten Dienstag eine erste Antwort gegeben hat. Statt wie gewohnt von „vorübergehender Inflation“ zu sprechen, hieß es jetzt, dass das Tapering „vielleicht ein paar Monate früher“ beendet sein könnte.
Klassische Modelle auf Basis von Vergangenheitsdaten gehen davon aus, dass eine massive Straffung der Geldpolitik zu höheren Realzinsen führt. Dann wären die Konsenspositionen von Anfang 2021 auf einmal wieder sinnvoll. Aber damit würde man die Fehler vom Jahresbeginn wiederholen. Wenn der Leitzins nicht über die jetzt erwarteten 1,6% steigt, ist auch ein Realzinsanstieg nur schwer vorstellbar.
Deshalb glauben wir, dass die Reaktionen von Investoren und Wirtschaft auf das Tapering viel über die absehbare Marktentwicklung sagen können. Umso wichtiger scheinen uns die Äußerungen der Notenbank.
Gelingt der Fed das Tapering und kann sie durch eine kluge Rhetorik einen massiven Ausverkauf oder ein schwächeres Wirtschaftswachstum verhindern? Falls ja, sind auch schnellere Leitzinserhöhungen denkbar, mit einem höheren Leitzinsmaximum und schließlich auch höheren Realzinsen. Oder könnten die Entscheidungsträger die Investoren wieder in länger laufende Assets treiben? Sorgen strukturelle Faktoren für niedrige Realzinsen, unabhängig von den Maßnahmen der Fed?
Überzeugung und Bescheidenheit
Noch haben wir nicht die nötige Überzeugung um diese Fragen zu beantworten. 2021 sorgte aber in vielen anderen Punkten für Klarheit bei unserem Multi-Asset Team.
Erstens haben wir gesehen, dass sich die Vergangenheit in diesem Konjunkturzyklus nicht unbedingt wiederholt. Man sollte daher bescheiden sein – und diversifizieren. Zweitens wissen wir vielleicht noch nicht, wie sich die Leitzinsen und der Realzins noch entwickeln. Allerdings sind wir uns sicher, dass man beides genau beobachten sollte. Drittens dürfte uns das Tapering der Fed zeigen, ob die Zinsen wirklich deutlich zulegen können.
Schließlich glauben wir, dass auch 2022 vieles unklar bleibt. Es wird aber ein wichtiges Jahr für die Performance von Assetklassen, Investmentstilen, Sektoren, Regionen und Währungen. Vielleicht entscheidet das neue Jahr über die Entwicklung im weiteren Verlauf des Konjunkturzyklus.
Robert Surgent, Senior Portfolio Manager, Multi-Asset Strategies, Neuberger Bergmann