„Ist es schon so weit?”, fragte Joe Amato vor zwei Wochen, als der S&P 500 Index sechs Wochen in Folge gefallen war und Anleger überlegten, ob jetzt der Tiefpunkt erreicht sei.
Sein Fazit: Abschwung und Inflation mahnen weiter zur Vorsicht, und noch immer bleiben defensive Qualitätsaktien mit niedrigem Beta die Titel der Wahl. Tatsächlich ist der S&P 500 danach die siebte Woche gefallen. Zeitweise zeichnete sich sogar eine Baisse ab.
War es das jetzt wirklich?
Lassen Sie mich noch einmal darauf eingehen, wie das Multi-Asset-Team von Neuberger Berman die Marktbewertungen sieht. Wie es scheint, haben viele Investoren in den letzten zwei Wochen ihre Sicht geändert. Das kann Auswirkungen auf das angemessene Risikoniveau haben.
Realrenditen
Ende letzten Jahres schrieb mein Kollege Robert Surgent in einem sehr weitsichtigen Beitrag, dass „die Assetklassen-Performance vor allem von den Zinsen abhängen“ werde. Ein Anstieg der Realrenditen würde „weitreichende Folgen“ haben.
Seitdem ist die reale US-Zehnjahresrendite schnell gestiegen, von 1,00% auf ein Maximum von 0,35% am 10. Mai. Natürlich sind Aktien eingebrochen.
Bei genauerer Betrachtung erscheint Roberts Voraussage aber noch bemerkenswerter.
Sehen wir uns einmal den Zusammenhang zwischen der realen US-Zehnjahresrendite und dem KGV des S&P 500 Index auf Basis der Gewinnerwartungen an. Seit 2018 ging eine Realrendite von 1,00% mit einem KGV von 23 einher. Ähnlich hoch war es Ende letzten Jahres. Bei einer Realrendite von 0,35% betrug das KGV 17 – etwa so viel wie nach den Kursverlusten Mitte Mai.
Wer also zu Jahresbeginn gewusst hätte, dass die Realrendite Mitte Mai 0,35% beträgt, hätte das KGV prognostizieren können. Weder der russische Einmarsch in die Ukraine, die Corona-Lockdowns in China noch die immer höhere Inflation hätten wirklich eine Rolle gespielt. Entscheidend wären nach dieser Formel die strafferen Finanzbedingungen gewesen, weil die Notenbanken ihre extrem expansive Geldpolitik nach Corona allmählich normalisieren wollten. Deshalb sind Aktien und Anleihen in den letzten Monaten gleichzeitig gefallen.
Die Realrenditen, aber auch umfassendere Indikatoren für die Geldpolitik wie der US Financial Conditions Index von Goldman Sachs, befinden sich jetzt wieder auf Vor-Corona-Niveau. Aber was bedeutet es für Aktien, wenn die Normalisierung der Geldpolitik abgeschlossen ist (oder die noch ausstehenden Schritte in den Kursen berücksichtigt sind) und der jüngste Kursrückgang allein mit strafferen Finanzbedingungen zu tun hat? Werden die Kurse dann eher steigen als fallen?
Gewinne
Dann würde sich die Entwicklung der Jahre 2020 und 2021 umkehren. Mit Beginn der Pandemie brachen die Unternehmensgewinne zunächst ein. Trotzdem erholten sich Aktien schnell wieder, und in den folgenden zwei Jahren legten die Gewinne so stark zu, dass die höheren Bewertungen gerechtfertigt waren. Seit Anfang 2022 sind die Bewertungen aber eingebrochen. Werden die Gewinne jetzt ebenfalls fallen, damit das gerechtfertigt ist?
Manches spricht dafür, dass viele Investoren das mittlerweile fürchten. Sie scheinen nicht mehr nur die Bewertungen zu überdenken, sondern zweifeln auch den Gewinnausblick an.
In den neun Tagen vor dem jüngsten Tief des S&P 500 sind die Realrenditen gefallen und die Anleihekurse gestiegen, sodass die seit Jahresbeginn positive Korrelation zwischen Aktien und Anleihen zu Ende ging. Die siebte Verlustwoche in Folge, in der die Aktienkurse an einem einzigen Tag um 4% fielen, schien nichts mit scharfen Äußerungen der Fed oder Zinserhöhungen zu tun zu haben. Wichtiger schienen die negativen Gewinnrevisionen, zumal viele Unternehmensgewinne die Erwartungen verfehlten. Margen und Kundenzahlen gingen zurück, nicht nur bei Technologieunternehmen mit langer Duration, sondern auch bei Konsum- und Einzelhandelsriesen – bei klassischen Qualitätsaktien also.
Wenn die Unternehmensgewinne nicht mehr so stark steigen, müssen wir Gewinnchancen und Verlustrisiken neu einschätzen. Nehmen wir dazu an, die erwarteten Gewinne der S&P-500-Aktien fallen in den nächsten zwölf Monaten von den aktuellen 245 US-Dollar je Aktie etwa auf 210 US-Dollar. Unterstellen wir außerdem ein unverändertes KGV. Dann würde der Index um weitere 10% nachgeben.
Überzeugungen
Ob die Verlustphase vorbei ist, hängt also davon ab, ob die US- und die Weltwirtschaft die Straffung der Finanzbedingungen abfedern können, sodass es nur zu einer Konjunkturdelle und nicht zu einer Rezession kommt. Wenn die Anleger davon wirklich überzeugt sind, könnten die Aktienkurse bald wieder steigen; es gäbe wieder mehr Chancen als Risiken. Steht uns aber eine Rezession bevor, dürften die Verlustrisiken überwiegen. Auch wenn die Bewertungen nicht weiter fallen, könnte man an den Märkten mit niedrigeren Gewinnen rechnen.
Wie Joe schon sagte: Das Basisszenario des Asset Allocation Committee bleibt, dass die USA im nächsten Jahr der Rezession entgehen. Uns ist aber bewusst, dass die Risiken gestiegen sind. An den Aktienmärkten kann in den nächsten zwölf bis 18 Monaten daher viel passieren. Vielleicht sind wir nicht so pessimistisch wie in den Wochen, als das KGV des S&P 500 über 20 lag. Trotzdem ist aus unserer Sicht jetzt nicht die Zeit für große Risiken.
Wir bevorzugen daher noch immer defensive Qualitätsaktien mit niedrigem Beta. Allerdings muss man wachsam sein und vielleicht auf andere Dinge achten. In den ersten fünf Monaten des Jahres standen Realrenditen und Aktien mit langer Duration im Blickpunkt. Jetzt könnte es der Gesamtmarkt sein. Fundamentalindikatoren könnten wichtiger werden, etwa Einkaufsmanagerindizes, Gewinnausblicke, Verbrauchervertrauen und alternative Echtzeitdaten zum Konsum. Hier könnte man Hinweise darauf finden, ob die Aktienmärkte wieder steigen oder weiter fallen.
Erik Knutzen, Chief Investment Officer – Multi-Asset Class, Neuberger Berman