CIO Weekly | Die Ukraine und der Weg zur Deglobalisierung

Auch dieses Jahr empfehle ich wieder eine Ferienlektüre, diesmal zur jahrtausendealten Bedeutung der Ukraine für den Welthandel. Sie hilft uns zu verstehen, warum der aktuelle Konflikt ein weiterer schwerer Schlag für die Globalisierung sein kann. Neuberger Berman | 04.08.2022 11:36 Uhr
Erik Knutzen, Chief Investment Officer – Multi-Asset Class, Neuberger Berman / © Neuberger Berman
Erik Knutzen, Chief Investment Officer – Multi-Asset Class, Neuberger Berman / © Neuberger Berman
Archiv-Beitrag: Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Das sechste Mal in Folge empfehle ich heute den Lesern der CIO Weekly Perspectives eine Sommerlektüre, egal, ob Sie zum Strand oder in die Berge aufbrechen. Die Ferien sind eine gute Zeit, um sich losgelöst vom Tagesgeschäft mit größeren Zusammenhängen zu befassen.

Lassen Sie uns daher trotz immer neuer Schlagzeilen über die jüngste Zinserhöhung der Fed und das zweite Quartal in Folge mit einer schrumpfenden US-Wirtschaft in größeren Zusammenhängen denken, zumindest für diese Woche. Tagesaktuelle Analysen finden Sie wie immer in unserem NB Blog.

Vor fünf Jahren habe ich Krieg und Frieden empfohlen, einen echten Klassiker über das russische Zarenreich während der Napoleonischen Kriege. Er hat mir vor Augen geführt, wie wichtig die großen Zusammenhänge sind. Als ich drei Jahre später während der Pandemie zu Hause saß, erfuhr ich in der Fernsehserie Chernobyl viel über Krisenresistenz, Zukunftsplanung und strategische Redundanz für den Fall einer Katastrophe. Für unsere Portfolios ist das genauso wichtig wie für technische Systeme.

Wegen der aktuellen Ereignisse geht es in meiner heutigen Empfehlung um die gleiche Region. Das Tor Europas: Die Geschichte der Ukraine von Serhii Plokhy ist eine fesselnde Darstellung dieses sich stets ändernden, kulturell vielfältigen und oft konfliktträchtigen Teils der Welt. Plokhy zeigt uns, wie wichtig die Ukraine seit Jahrtausenden für den Welthandel und die Weltwirtschaft ist. 

Fruchtbare Böden

In dem Buch erfahren wir, dass die Ukraine in der westlichen Literatur zuerst im Zusammenhang mit Handel erwähnt wird.

Mitte des 5. Jahrhunderts vor Christus beschrieb Herodot die Vielfalt wichtiger Güter aus der Region nördlich des Schwarzen Meeres. Die alten Griechen hatten hier wohlhabende Kolonien mit engen Verbindungen zu den dort siedelnden Skythen aufgebaut.

Viereinhalb Jahrhunderte später war alles anders. Der römische Dichter Ovid schrieb im Exil in Tomoi im heutigen Rumänien über die „wilden“ Sarmaten, die die Region beherrschten. Seinerzeit galt sie als unwirtliche Gegend außerhalb des Römischen Reiches und seines Handelsnetzes, als „frostig und feindselig“.

Seit der Antike zeigt sich eins: Wenn das Land, das wir heute Ukraine nennen, friedlich und offen ist, funktioniert der Welthandel. Ist es aber kriegerisch und abgeschottet, werden große Teile des Handels blockiert.

Die Erklärung liefert die Weltkarte: Die Ukraine liegt in der riesigen eurasischen Landmasse am Schnittpunkt von Norden und Süden, von Osten und Westen. Sie verbindet Mittel- und Westeuropa mit den fruchtbaren Böden und dem Rohstoffreichtum Eurasiens und das Baltikum sowie Nordosteuropa mit dem Schwarzen Meer und den Mittelmeerländern. Das Südchinesische Meer und der Suezkanal sind geopolitisch wichtige Handelsrouten der Moderne. Die Länder nördlich des Schwarzen Meeres und ihre antiken Vorgängerstaaten waren aber schon immer wichtig. Auch das haben wir dieses Jahr gelernt. 

Vier schwere Schläge

Der Krieg in der Ukraine hat weitreichende weltpolitische, humanitäre, militärische und strategische Folgen. Und mehr noch: Er könnte der mittlerweile 70-jährigen Globalisierung einen vierten Schlag versetzen.

Das Ende des Zweiten Weltkriegs, der Mauerfall und Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation haben die Globalisierung entscheidend vorangebracht. Mit Kriegsende wurden die erforderlichen Institutionen gegründet. Die beiden anderen Ereignisse öffneten sie für die Welt.

Die große Finanzkrise 2007 bis 2009 war der erste schwere Rückschlag. Sie zeigte, wie anfällig die komplexen weltweiten Verflechtungen sein können, an den Finanz- wie an den Gütermärkten. In vielen Ländern macht sich Protektionismus breit. Der Brexit und die US-Wahlen 2016, die die Handelsbeziehungen in Europa sowie zwischen den USA und China schwächten, waren der zweite Schlag – ein populistischer Angriff gegen den ungleich verteilten Nutzen der Globalisierung. Dann kam als dritter Schlag Corona. Die Pandemie zeigte einmal mehr, wie krisenanfällig die weltumspannenden hypereffizienten Just-in-time-Lieferketten sind.

Und was lehrt uns der Krieg in der Ukraine für die Deglobalisierung? Noch sind die Dinge im Fluss, aber schon jetzt zeigt sich, dass die Geografie in unserer postmodernen Hightech-Welt wichtig bleibt. Um unsere grundlegendsten Bedürfnisse zu decken, brauchen wir Nahrung und Energie. Beides ist vielleicht sehr viel mehr in einer Region konzentriert, als wir glaubten – und damit auch sehr viel krisenanfälliger. Auch scheinen wieder ähnliche Handelsblöcke zu entstehen wie während des Kalten Krieges. Die Entwicklung hatte schon begonnen, als die strategische Bedeutung von Halbleitern, Daten und technologischer Infrastruktur Spannungen zwischen den USA und China verursachte. 

Deglobalisierung

Eigentlich soll dies eine Ferienlektüre sein. Daher bitte ich um Nachsicht, wenn ich jetzt über die Konsequenzen für Investoren schreibe. Aber auch das muss sein.

Wir sehen einen nachhaltigen Rückschlag für die Globalisierung. Wir glauben nicht, dass diese vier schweren Schläge zufällig sind und nichts miteinander zu tun haben. Finanzkrisen können weltweite Ungleichheiten verstärken. Ungleichheit führt zu Populismus, Populismus zu Konflikten. Pandemien, die sich über den Welthandel und internationale Reisen ausbreiten, können Ungleichheiten ebenfalls verstärken. Sie können damit Populisten Auftrieb geben, die die Grenzen undurchlässiger machen wollen – und Auswirkungen auf die Lieferketten haben.

Die Globalisierung hat Arbeit und Güter billiger gemacht, Inflation und Zinsen gedämpft, den Anteil des Kapitals am Wirtschaftswachstum gesteigert und die Risikoprämien von Finanzaktiva fallen lassen. Nehmen wir nur eine simple Kennziffer: Das KGV des S&P 500 auf Basis der erwarteten Gewinne lag in den gut 30 Jahren vor dem Mauerfall unter 15 – und seitdem über 20.

Die Deglobalisierung scheint all das umzukehren. Dann wird es schwieriger, beim gleichen Risiko seine langfristigen Ertragsziele zu erreichen. Anleihen werden sich auch nicht mehr so gut zur Diversifikation von Aktien eignen. Wir halten dann einen aktiveren Investmentansatz für nötig, mit einer flexibleren Diversifikation: nach Regionen und Stilen, mit liquiden sowie illiquiden Assetklassen gleichermaßen, mit Finanz- und Sachwerten.

Als geschichtsinteressierter Mensch möchte ich meinen heutigen Beitrag aber nicht mit einer Investmentempfehlung beenden, sondern mit dem Rat, Das Tor Europas zu lesen, eine interessante Abhandlung über eine wichtige Region. Man erfährt, so meine ich, auf beeindruckende Weise, dass Geschichte mehr ist als Vergangenheit. Sie kann sehr schnell auch die Zukunft bestimmen.

Erik Knutzen, Chief Investment Officer – Multi-Asset Class, Neuberger Berman

Performanceergebnisse der Vergangenheit lassen keine Rückschlüsse auf die zukünftige Entwicklung eines Investmentfonds oder Wertpapiers zu. Wert und Rendite einer Anlage in Fonds oder Wertpapieren können steigen oder fallen. Anleger können gegebenenfalls nur weniger als das investierte Kapital ausgezahlt bekommen. Auch Währungsschwankungen können das Investment beeinflussen. Beachten Sie die Vorschriften für Werbung und Angebot von Anteilen im InvFG 2011 §128 ff. Die Informationen auf www.e-fundresearch.com repräsentieren keine Empfehlungen für den Kauf, Verkauf oder das Halten von Wertpapieren, Fonds oder sonstigen Vermögensgegenständen. Die Informationen des Internetauftritts der e-fundresearch.com AG wurden sorgfältig erstellt. Dennoch kann es zu unbeabsichtigt fehlerhaften Darstellungen kommen. Eine Haftung oder Garantie für die Aktualität, Richtigkeit und Vollständigkeit der zur Verfügung gestellten Informationen kann daher nicht übernommen werden. Gleiches gilt auch für alle anderen Websites, auf die mittels Hyperlink verwiesen wird. Die e-fundresearch.com AG lehnt jegliche Haftung für unmittelbare, konkrete oder sonstige Schäden ab, die im Zusammenhang mit den angebotenen oder sonstigen verfügbaren Informationen entstehen. Das NewsCenter ist eine kostenpflichtige Sonderwerbeform der e-fundresearch.com AG für Asset Management Unternehmen. Copyright und ausschließliche inhaltliche Verantwortung liegt beim Asset Management Unternehmen als Nutzer der NewsCenter Sonderwerbeform. Alle NewsCenter Meldungen stellen Presseinformationen oder Marketingmitteilungen dar.
Klimabewusste Website

AXA Investment Managers unterstützt e-fundresearch.com auf dem Weg zur Klimaneutralität. Erfahren Sie mehr.

Melden Sie sich für den kostenlosen Newsletter an

Regelmäßige Updates über die wichtigsten Markt- und Branchenentwicklungen mit starkem Fokus auf die Fondsbranche der DACH-Region.

Der Newsletter ist selbstverständlich kostenlos und kann jederzeit abbestellt werden.