Märkte und Konjunktur haben sich in den letzten Wochen auseinanderentwickelt. Die Kursbewegungen schienen ziellos, unplausibel und widersprüchlich. Die Zinsen waren volatil und es kam zu großen Umschichtungen zwischen Substanz- und Wachstumswerten.
Ist das vielleicht nur die Folge der für den Sommer typischen Illiquidität? Oder gibt es doch tiefere Ursachen? Erkennen die Investoren allmählich, dass es für die nächste Zeit keinen wirklichen Präzedenzfall gibt?
Rätsel
Betrachten wir einmal zwei Rätsel von beiden Seiten des Atlantiks.
Letzte Woche legten die europäischen Erdgaspreise erneut kräftig zu, auf ein Niveau wie kurz nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine. Die Märkte reagierten mit einem Anstieg der deutschen Zehnjahresrendite, was angesichts der Auswirkungen auf die Inflation verständlich ist. Weil teures Gas aber auch eine Rezession auslösen kann, legten die italienischen Länderspreads und die High-Yield-Spreads ebenfalls zu.
Eine Woche zuvor hatte in den USA die unerwartet niedrige Verbraucher- und Produzentenpreisinflation im Juli die langfristigen Staatsanleihenrenditen ebenfalls steigen lassen. Warum? Weil bei einer niedrigeren Inflation das Risiko sinkt, dass die Fed durch Zinserhöhungen eine Rezession riskiert. Aber wieso kam es dann nicht nur bei Staatsanleihen, sondern auch bei Aktien zu einem Ausverkauf?
Vielleicht lösen Konjunktursorgen Inflationssorgen gerade als wichtigsten Faktor für die Marktentwicklung ab. Aber das allein kann es nicht sein. Darüber hinaus haben wir es mit einer sehr viel fundamentaleren strukturellen Unsicherheit zu tun.
Entkopplung
Nach den jüngsten Zahlen ist eine Rezession in den USA sehr viel wahrscheinlicher geworden. Zugleich ist aber das nominale BIP um fast 8% gewachsen. Wie sollen Investoren auf eine mögliche Rezession reagieren, in der das nominale BIP um 8% steigt?
Wie Joe Amato vor einigen Wochen schrieb, haben wir wegen der seit 40 Jahren niedrigen und stabilen Inflation eine solche Entkopplung von realem und nominalem Wachstum seit den 1970ern nicht mehr erlebt. Seitdem hat sich die Wirtschaft aber so stark verändert, dass wir aus den 1970ern heute kaum noch etwas lernen können.
Die Entkopplung kann Auswirkungen auf Aktien und Anleihen haben, vor allem im Abschwung.
In den letzten Jahrzehnten gingen Rezessionen meist mit fallenden Unternehmensgewinnen und einem Ausverkauf am Aktienmarkt einher – denn bei einer Rezession ohne gleichzeitige Inflation schrumpften sowohl das nominale als auch das reale BIP.
Bleibt es aber beim aktuellen Konjunkturregime, würden Unternehmensgewinne und Kreditqualität auch dann vom hohen nominalen Wachstum profitieren, wenn das BIP real schrumpft. Im Moment sieht es laut FactSet so aus, als seien die Gewinne der S&P-500-Unternehmen im 2. Quartal dieses Jahres fast 7% höher gewesen als vor einem Jahr – und das, obwohl das reale US-BIP gerade das zweite Quartal in Folge gefallen ist.
Entscheidend dürfte also sein, ob die Inflation trotz Abschwung hoch bleibt. Dann könnten auch die Zinsen hoch bleiben, trotz Rezession.
Hohe Inflation, hohe Zinsen, hohes nominales Wachstum: Aus unserer Sicht spricht das für Qualitätsaktien mit hohen Dividendenrenditen, für Substanzwerte statt Wachstumswerte, für Credits statt Staatsanleihen und für Sachwerte wie Rohstoffe. Abgesehen vom Fokus auf Qualität sind das völlig andere Empfehlungen als für die Rezessionen der letzten 40 Jahre!
Fixiert
Die jüngsten Kursschwankungen zeigen aber auch, dass sich die Investoren noch nicht wirklich an das neue Umfeld gewöhnt haben.
Vielleicht glauben sie noch nicht an eine strukturell höhere Inflation. Möglicherweise warten sie noch auf weitere maßvolle Zinserhöhungen, damit das nominale BIP-Wachstum wieder dem realen entspricht und die Welt dann wieder so aussieht, wie wir sie seit der internationalen Finanzkrise kennen. Vielleicht ist man auch einfach zu sehr auf die letzten 40 Jahre fixiert, um zu erkennen, dass die nächste Rezession und die nächste Erholung ein Umdenken erfordern.
Schon länger schreiben wir über viele wichtige Entwicklungen, die für mehr Preisauftrieb sorgen. Sie betreffen die Globalisierung, die Energiepreise, die Geld- und Fiskalpolitik und Chinas Rolle in der Weltwirtschaft. Wir rechnen daher zunehmend mit einer strukturell höheren Inflation, mit höheren Zinsen und einer größeren Diskrepanz zwischen nominalem und realem Wachstum. All das hat Auswirkungen auf die Asset-Allokation.
Eines ändert sich aber nicht: Wir setzen weiterhin auf Diversifikation. Die Investoren lernen das neue Umfeld gerade erst kennen. Solange sie noch unsicher sind, ob sie den alten Rezepten weiter vertrauen oder in diesem sehr ungewöhnlichen Abschwung neue Wege gehen sollen, rechnen wir mit Volatilität.
Erik Knutzen, Chief Investment Officer – Multi-Asset Class, Neuberger Berman