Halb voll? Nach Glasgow waren wir optimistisch
COP26 hinterließ bei uns den Eindruck, dass „das Glas halb voll ist“.
190 Länder und Unternehmen hatten vereinbart, langfristig aus der Kohleverstromung auszusteigen und keine neuen Kohlekraftwerke mehr zu fördern. Über 100 Länder mit zusammen etwa 85% aller Waldflächen weltweit wollten spätestens 2030 die Entwaldung stoppen.
Fortschritte gab es auch bei den Kapitalgebern. Die Glasgow Financial Alliance for Net Zero (GFANZ), ein Zusammenschluss von 450 institutionellen Investoren mit zusammen 130 Billionen US-Dollar verwaltetem Vermögen, bekannte sich bis spätestens 2050 zur Netto-Null. Die neue Initiative will an die Net Zero Asset Managers Initiative (NZAMI) und die Net Zero Asset Owner Alliance (NZAOA) anknüpfen. Außerdem wurde endlich Artikel 6 der Pariser Klimavereinbarung umgesetzt. Man einigte sich auf Rahmenrichtlinien für den internationalen Emissionshandel.
All das wurde erreicht, obwohl die Welt gerade erst die Pandemie hinter sich ließ, die die schlimmste Rezession seit 70 Jahren ausgelöst hatte, die weltpolitischen Spannungen zunahmen und der Protektionismus eine Renaissance erlebte.
Ein schwieriges Jahr
Seitdem ist unser halb volles Glas aber etwas leerer geworden.
In Glasgow haben sich 193 Länder zu ehrgeizigeren Klimazielen bekannt. Doch seit COP26 haben nur 24 davon ihre Zusagen – die Nationally Determined Contributions (NDCs) – aktualisiert. Das ist kaum geeignet, die Emissionen wie geplant bis 2030 zu verringern.
Nach dem jüngsten Fortschrittsbericht des UN-Umweltprogramms (UNEP) ist bislang nicht damit zu rechnen, dass die G20 die NDCs erfüllen. Nach jetzigem Stand werden die Treibhausgasemissionen bis 2030 um gerade einmal 1% sinken. Um die Erderwärmung auf 1,5°C zu begrenzen, sind aber 45% nötig. Nach der UNEP-Studie könnte die Temperatur sogar bei einer vollständigen Umsetzung der NDCs noch um 2,4°C steigen.
Was muss also noch getan werden? Nach Berechnungen von Climate Action Tracker muss die Entwaldung zweieinhalbmal so stark verlangsamt werden wie jetzt, um die Ziele für 2030 zu erreichen. Außerdem muss die Kohleverstromung sechsmal so schnell verringert werden, und die Dekarbonisierung der Zementproduktion muss sich um den Faktor zehn beschleunigen.
Schon vor einem Jahr waren die wirtschaftliche und weltpolitische Lage nicht einfach. Der russische Einmarsch in die Ukraine hat aber alles noch schwieriger gemacht. Wegen des Krieges gehen in Europa wieder alte Kohlekraftwerke ans Netz, um die ausbleibenden Erdgasimporte auszugleichen.
Keine hohen Erwartungen an COP27
Was aber erwarten wir von der diesjährigen Weltklimakonferenz?
Weil COP27 in Afrika stattfindet, könnten Finanzhilfen für benachteiligte Länder und Emerging Markets zu einem größeren Thema werden. Schon lange weisen die Entwicklungsländer auf die Ungerechtigkeit hin, dass die reichen Nationen jahrzehntelang Kohle verbrannt haben, dies den ärmeren Ländern aber nicht zugestehen wollen.
Das ist ein wichtiges, aber auch sehr umstrittenes Thema. In Glasgow haben die Industrienationen den Entwicklungsländern höhere Finanzhilfen zugesagt. Aber die Zusagen erreichen bislang noch nicht einmal die nicht eingelösten Versprechen seit 2009. Vor der diesjährigen Konferenz führten schon die technischen Diskussionen über den Ausgleich von Folgeschäden der Erderwärmung zu Meinungsverschiedenheiten. Wegen der angespannten Finanzen und der steigenden Lebenshaltungskosten auch in den Industrieländern dürfte eine Einigung über Zuschüsse für ärmere Länder schwerfallen.
Auch von der GFANZ sollte man nicht zu viel erwarten. Die Mitglieder repräsentieren jetzt zwar ein Anlagevermögen von 150 Billionen US-Dollar, aber manche Banken drohen mit Rückzug. Sie äußern rechtliche Bedenken gegen die strengen Vorgaben für den Ausstieg aus der Finanzierung fossiler Energien. In Sharm El-Sheikh soll GFANZ Dekarbonisierungsziele für Unternehmen vorstellen. Es bleibt abzuwarten, ob sich die Initiative auf der Konferenz profilieren kann.
Hoffnung auf Fortschritt
Dennoch könnte COP27 Fortschritte bringen.
Vielleicht kommt in Sharm El-Sheikh eine Koalition für Artenvielfalt zustande, sodass Berichtsstandards und Zielvorgaben wie die der Taskforce on Nature-related Financial Disclosures (TNFD) und der Science-Based Targets for Nature (SBTN) intensiver genutzt werden. Wenn dann noch die Artenvielfaltskonferenz COP15 in Montreal im Dezember etwas bewirkt, könnte es nicht nur bei den wichtigen Themen Entwaldung, Landwirtschaft und Meeresschutz, sondern auch bei der Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5°C echte Fortschritte geben. Sehr viel unwahrscheinlicher ist, dass auf der COP27-Konferenz ein rechtlich bindender Artenschutzvertrag nach Pariser Vorbild zustande kommt. Aber auch das ist nicht unmöglich.
Gewisse Erfolgschancen sehen wir bei der Formulierung von Indikatoren, Zielen und Finanzzusagen für die Anpassung an den Klimawandel und für eine Gemeinschaftsinitiative zur Beurteilung der Klimaschäden und Finanzierung von Gegenmaßnahmen. Auch die Beseitigung einiger Schwächen des CO2-Marktmechanismus gemäß Artikel 6 scheint denkbar.
Außerdem könnte an die jüngsten wichtigen Fortschritte angeknüpft werden: Über 90% der 3.400 größten Unternehmen weltweit haben ein Netto-Null-Ziel. Über 350 wollen noch in diesem Jahrzehnt klimaneutral werden, und fast 1.400 bis 2040.
Das Szenario im jüngsten World Energy Outlook der Internationalen Energieagentur (IEA) ist ermutigend. Trotz der derzeitigen politischen Unsicherheit ist die IEA überzeugt, dass die „Nutzung fossiler Energie ihren Höhepunkt bald erreicht“. Bei Kohle wird es in diesem Jahrzehnt so weit sein, bei Erdgas am Ende des Jahrzehnts und bei Öl Mitte der 2030er.
Langfristig dürfte sogar der Krieg in der Ukraine dem Klimaschutz nützen, zeigt er doch, dass erneuerbare Energien nicht nur aus ökologischen, sondern auch aus strategischen Gründen alternativlos sind. In der derzeitigen Notsituation fließt wieder viel Kapital in Verteidigung und fossile Energie. Beides steht gerade im Blickpunkt. Weil aber der Krieg die Lebenshaltungskosten massiv steigen lässt, ist auch die Nachhaltigkeit der Energieversorgung wieder zu einem wichtigen Thema geworden. Autarkie setzt hohe Investitionen in erneuerbare Energien voraus, sodass sie für die Politik Priorität haben. Der amerikanische Inflation Reduction Act (IRA) ist das wichtigste von vielen Gesetzen zur Finanzierung der Energiewende, die im Vorfeld von COP27 verabschiedet wurden.
Sarah Peasey, Director of European ESG Investing, Neuberger Berman