Diese Woche erscheint Solving for 2023, unser jährlicher Ausblick auf die Themen, die wir in den nächsten zwölf Monaten für wichtig halten.
Unser erstes Thema hat drei Aspekte. Erstens glauben wir, dass Inflation, Zinserhöhungen, Anleiherenditen und Marktvolatilität in den nächsten zwölf Monaten allmählich nachlassen – und dass BIP-Wachstum, Gewinnwachstum und Bewertungen allmählich wieder steigen.
Wir rechnen mit Divergenzen und Wendepunkten. Wie weit können sich Inflation und Geldpolitik von der Konjunktur entfernen? Wie stark muss die Inflation fallen, bis die Geldpolitik eine Wende vollzieht und damit die Grundlage für eine wieder höhere Risikobereitschaft und neues Wachstum schafft?
Die starke Marktreaktion auf die unerwartet schwache US-Inflation – und ihre Kernrate – am Donnerstag zeigt, dass die Märkte allmählich mit einer Trendwende rechnen. Jedes Anzeichen dafür greifen sie begierig auf. Sie scheinen nur darauf zu warten, dass die Divergenz von Geldpolitik und Wirtschaftswachstum aufhört.
Zurück zur alten Normalität
Damit kommen wir zu unserem zweiten Thema. Wir glauben nicht, dass die „neue Normalität“ der Jahre nach 2008 zurückkehrt. Wir rechnen eher mit einer Rückkehr dessen, was wir aus der Zeit vor 2008 oder gar 2000 gewohnt waren – weniger Globalisierung, strukturell höhere Inflation, höhere Zinsen und Kapitalkosten und strukturell niedrigere Bewertungen.
Das hieße, dass die Märkte aus den Inflationszahlen der letzten Woche zu viel herauslesen. Sie würden die Wahrscheinlichkeit unterschätzen, dass die Inflation dauerhaft 3% bis 4% beträgt.
Damit kommen wir zu unserem dritten Thema: Weil Inflation und Zinsen 2022 so schnell gestiegen sind und viele Marktteilnehmer mit einer baldigen Kehrtwende und einer Neuauflage der Zeit nach 2008 rechnen, werden uns die Folgen der höheren Inflation und der höheren Zinsen noch lange begleiten.
Entkoppelt
Betrachten wir als Beispiel eine andere Divergenz, die nach einer Korrektur verlangt: Japans Geldpolitik hat sich von der Geldpolitik der meisten anderen Länder vollkommen entkoppelt.
Die Bank of Japan hält nicht nur an ihren negativen Kurzfristzinsen fest, sondern kauft auch lang laufende Staatsanleihen. Wegen dieser Zinsstrukturkurvensteuerung ist der Yen auf ein 30-Jahres-Tief gefallen. Man fürchtet daher ein starkes Überschießen der Inflation, die schon jetzt fast auf ein 30-Jahres-Hoch gestiegen ist. Außerdem gibt es für die drei Laufzeiten, die sie beeinflussen will, bald keine Anleihen mehr zu kaufen.
Wenn die Fed nach den Inflationszahlen vom letzten Donnerstag als Erste die Wende einläutet, könnte die Bank of Japan vielleicht um eine eigene Kehrtwende herumkommen.
Unsere Einschätzung der US-Inflation spricht aber eher dagegen. Sicher sind Zeitpunkte schwer zu prognostizieren. Dennoch glauben wir, dass die Bank of Japan ihre Geldpolitik ändern muss, und wie die Notenbanker selbst halten auch wir das nicht für leicht.
Erwartungen
Vielleicht ist die japanische Geldpolitik nur dann nachhaltig, wenn die „neue Normalität“ der Jahre nach 2008 zurückkehrt. Ähnlich verhält es sich unserer Ansicht nach bei vielen Entscheidungen von Regierungen, aber auch von Unternehmen und Privathaushalten. Sie alle haben sich zehn Jahre lang an Zinsen nahe null gewöhnt.
Entscheidend wird sein, wie gut die Unternehmen mit den strukturell höheren Zinsen in den nächsten ein oder zwei Jahren zurechtkommen. Manche können höhere Kosten leichter an ihre Kunden weitergeben, anderen fallen Preiserhöhungen schwerer. Sowohl die Margen als auch die Einzelwerte dürften sich daher stark auseinanderentwickeln. Obwohl die Märkte dieses Jahr schon sehr volatil waren, könnten noch stärkere Kursschwankungen folgen.
Deshalb glauben wir, dass Investoren im neuen Jahr vorsichtig sein sollten. Das ist das letzte unserer zehn Themen von Solving for 2023: Man sollte auf taktische Chancen achten. Kehrtwenden dürften weiter für Volatilität sorgen, was für Global-Macro- und andere kurzfristige Trading-Strategien aber auch eine Chance ist. Für unsere bevorzugten Langfristanlagen schließen wir Chancen durch günstige Bewertungen nicht aus, etwa für inflationssensitive Titel, Private Capital, Qualitätsaktien und Unternehmensanleihen. Wenn die Wirtschaft auf die höheren Zinsen reagiert, rechnen wir mit attraktiven Unternehmensanleiherenditen. Selbst Distressed Bonds – Problemanleihen – könnten interessant sein, wenn die Unternehmen ihre Fremdkapitalstruktur anpassen.
2022 könnte das Jahr der Anpassung von Inflation und Zinsen an die neue Realität gewesen sein. 2023 werden wir uns dann an diese Veränderung anpassen müssen.
Erik Knutzen, Chief Investment Officer – Multi-Asset Class, Neuberger Berman