Zunächst schien die gestrige Sitzung der europäischen Währungshüter, wenig Überraschendes zu bieten: Die EZB verlangsamte das Tempo ihrer Zinserhöhungen wie erwartet von 50 Basispunkten auf 25 Basispunkte. Sowohl die offizielle Erklärung als auch die Pressekonferenz mit Frau Lagarde vermittelten dabei sowohl dovishe als auch hawkishe Nachrichten. Zwei Botschaften werden für den Markt besonders ins Gewicht fallen. Erstens: „Die Aussichten für die Inflationsentwicklung sind weiterhin zu hoch – und der Rückgang auf ein akzeptables Niveau geht weiterhin zu langsam voran“. Zweitens: „Die Währungshüter bleiben bei dem Kurs, die Reinvestitionen im Rahmen des APP ab Juli 2023 einzustellen." Damit ist ein Abflachen der Renditekurve, das heißt einen Anstieg der langfristigen Renditen, vorgezeichnet. Diese Entscheidungen bekräftigen unsere Erwartung einer kurz- bis mittelfristigen Outperformance von Anleihen, allerdings mit einer gewissen Vorsicht für die Peripherie.
Inflation: Es steht noch ein langer Weg bevor
Bei der Gesamtinflationsrate hat die EZB in den vergangenen Monaten zwar einen Rückgang festgestellt. Übertragen die Währungshüter die verzögerte Wirkung ihrer Geldpolitik auf die Realwirtschaft, stellen sie jedoch fest, dass ihr wirtschaftsgekoppelter Ansatz zur Bestimmung des Höchstsatzes sowie der Dauer dieses Niveaus zu einem starken Anstieg der kurz- und mittelfristigen Anleihekurse geführt hat. Darüber hinaus haben wohl die schwachen Daten zu Bankkrediten die EZB überzeugt, den Zinssatz nur um 25 Basispunkte zu erhöhen.
Kurz gesagt: Die EZB kommt zu dem Schluss, dass sie weiterhin nicht pausieren kann und noch einen langen Weg beim Thema Inflation vor sich hat. Trotz des Rückgangs des Verbrauchs, der Schwäche des Immobiliensektors und der Investitionsausgaben glauben sie nicht, dass die Nachfrage bereits ausreichend abgekühlt hat, um die Inflation in den Griff zu bekommen. Angesichts der verzögerten Auswirkungen, die die Erhöhung der Zinssätze auf die wirtschaftlichen Aktivitäten hat, erwarten wir daher, dass sich im zweiten Halbjahr eine Rezession in der Eurozone einstellt. Zumindest den Rückgang der Kerninflation würde dies deutlich beschleunigen. Für Investoren legt das auch eine Umschichtung weg von Sektoren nahe, die von einer Rezession betroffen wären.
Bankensystem: Anhaltende Turbulenzen schüren Sorge vor tiefer Rezession
Es waren jedoch weniger diese geldpolitischen Entscheidungen, die bei dieser EZB-Sitzung überraschten. Es war vielmehr die Tatsache, dass es die Währungshüter offensichtlich weiterhin nicht für notwendig halten, Werkzeuge zur Unterstützung des Bankensystems vorzuschlagen. Es ist zwar nachvollziehbar, dass die EZB Vertrauen in die Widerstandsfähigkeit und Solvenz der europäischen Banken demonstrieren will. Dabei könnten die Währungshüter aber das – durchaus reale – Risiko einer Ansteckung des europäischen Bankensystems aus den USA unterschätzen. Die Folgen anhaltender Finanzturbulenz wären sicher dramatisch und könnten den Euroraum in eine tiefe Rezession stürzen.
Von Patrick Barbe, Head of European Investment Grade Fixed Income bei Neuberger Berman