„Seit der letzten EZB-Sitzung hat sich die wirtschaftliche Lage deutlich verändert: Das BIP im Euroraum wurde auf -0,1 Prozent für das erste Quartal 2023 nach unten korrigiert und bestätigt die Schwäche des verarbeitenden Gewerbes und der Einzelhandelsumsätze. Dabei zeigt es, dass die Wirtschaft der Eurozone eine Winterrezession erlebt hat. Die Nettoexporte trugen aufgrund eines deutlichen Rückgangs der Importe rund 0,6 Prozent zum Wachstum bei, während der Konsum um -0,3 Prozent sank, nachdem er bereits im Q4 2022 einen Rückgang von -1 Prozent verzeichnet hatte. Kürzlich wurde auch ein wichtiger Frühindikator veröffentlicht: Die Auftragseingänge in der deutschen Industrie gingen im April um 0,4 Prozent im Vergleich zum Vormonat zurück. Damit lagen sie deutlich unter den Konsenserwartungen von plus 2,8 Prozent. Bereits im März war insbesondere aus anderen Ländern der Eurozone und einigen außerhalb Europas ein noch nie dagewesener Rückgang um 10,9 Prozent verzeichnet worden."
Mit Blick auf die Leitzinsentscheidung, meint Patrick Barbe:
„Der Markt erwartet seit Wochen, dass die EZB ihren Leitzins im Juni und Juli zweimal um 25 Basispunkte anheben wird. Auch geht der Markt davon aus, dass der Höhepunkt des Zinserhöhungszyklus sehr nah ist. Denn die restriktive Politik der EZB hat ihr Ziel bereits erreicht, die Nachfrage zu dämpfen. Beim Thema Inflation sind sich die Experten jedoch uneinig, ob die Arbeit der EZB getan ist. Die Gesamtinflation in der Eurozone ist zwar seit ihrem Höchststand bei 10,6 Prozent im Oktober auf 6,1 Prozent im Mai deutlich zurückgegangen. Der größte Teil davon ist jedoch auf die Energiepreise zurückzuführen. Erst seit Februar sinken die Preise für Industriegüter ohne Energie und seit April auch die Lebensmittelpreise. Die Preisentwicklung, die die EZB besonders stark im Auge behält, dürften die Dienstleistungspreise sein. Hier gab es erst im letzten Monat ein erstes Zeichen der Entspannung – ein Indikator dafür, dass die EZB zunächst an ihrer derzeitigen vorsichtigen Politik festhalten sollte.“
Positive Aussichten für Geldpolitik! Kommt die Überraschung?
„Die Überraschung der Sitzung könnte von der Aktualisierung der vierteljährlichen Projektionen der EZB-Mitglieder kommen: Diese könnten ein geringeres Risiko für Lohnerhöhungen, weniger Wirtschaftswachstum und eine geringere Inflation erwarten. Denn die Auswirkungen höherer Zinssätze treten mit einer Verzögerung von 12 bis 24 Monaten ein und könnten durch die Verschärfung der Kreditvergabestandards der Geschäftsbanken in der Eurozone noch verstärkt werden.“
Auf der kommenden EZB-Sitzung erwartet Patrick Barbe eine Einschätzung der Folgen einer schrumpfenden Bilanz:
„Angesichts der Turbulenzen im Bankensystem sollte die EZB eine Analyse der Folgen der drastisch verringerten Liquidität vorlegen. Nach dem Auslaufen des langfristigen Refinanzierungsprogramms in Höhe von 500 Milliarden Euro im Juni und dem Ende der Reinvestitionen von APP-Portfolioanleihen dürfte sich die EZB-Bilanz in diesem Jahr um rund 15 Prozent verkleinern. Darüber hinaus sollte die EZB verstärkt Informationen über die Auswirkungen der verschärften Kreditvergabestandards der Geschäftsbanken liefern.“
Von Patrick Barbe, Head of European Investment Grade Fixed Income bei Neuberger Berman