Zu Jahresbeginn hob China die letzten Coronarestriktionen auf. Anfang Juni konnte ich dann endlich zu meiner lange verschobenen Reise nach Peking, Hongkong und Shanghai aufbrechen.
Es war schön, die chinesischen Kollegen und Kunden wieder persönlich zu treffen. Aber mir schien es, als würden viele von ihnen Wirtschaft und Märkte eher zurückhaltend einschätzen.
Weil die Stimmung ganz anders ist als zu Jahresbeginn, sollte man sich die Lage einmal genauer ansehen. Verspricht China noch immer langfristig hohes Wachstum? Dämpfen die Spannungen zwischen den USA und China in beiden Ländern die Konjunktur? Oder sind die Bewertungen jetzt so günstig, dass sich ein höherer Chinaanteil in internationalen Portfolios lohnen könnte?
Neustart
Ende letzten Jahres schätzten wir Chinas Wirtschaft zurückhaltend ein. Null-COVID verunsicherte, wie wir im 4. Quartal in unserem Asset Allocation Committee Outlook schrieben. An Chinas großer Bedeutung für die Weltwirtschaft hatten wir aber keinen Zweifel. Als dann immer mehr für einen echten Neustart sprach, wurden wir im Januar für Chinas Wirtschaft und ihre Auswirkungen auf die Weltkonjunktur optimistischer.
Wie viele andere Assetmanager rechneten wir wegen der restriktiven Geldpolitik und der strafferen Finanzbedingungen mit einem schwächeren Wachstum der USA und anderer Industrieländer – und glaubten, dass China das ausgleichen und die Weltwirtschaft stützen könnte.
Nach einigen Anfangserfolgen nach dem chinesischen Neustart hat die Dynamik dann aber überraschend nachgelassen. Letzte Woche wurde die Industrieproduktion vom Mai veröffentlicht. Sie lag leicht unter den ohnehin schon nicht sehr hohen Erwartungen. Bereits im April hatten sich die Hoffnungen auf ein zweistelliges Wachstum gegen über dem Vorjahr zerschlagen.
Nach vielversprechenden Februar- und Märzzahlen zeigt der Einkaufsmanagerindex (PMI) für das Verarbeitende Gewerbe jetzt wieder eine schrumpfende Wirtschaft an. Im Mai fielen auch die Exporte, und die Produzentenpreisinflation ist drastisch eingebrochen, was für schwache Nachfrage und begrenzte Preismacht spricht. Der Immobiliensektor macht weiter Sorgen, und wie uns die internationale Finanzkrise gezeigt hat, können Immobilienmarktkorrekturen eine Wirtschaft jahrelang belasten. Da überrascht es nicht, dass nur wenig investiert wird und die Investitionen weiter fallen.
Unterdessen hat die Inflation in den meisten Industrieländern nachgelassen. Trotz der sehr viel höheren Zinsen erwies sich die Konjunktur, zumindest bis jetzt, meist als überraschend stabil.
Seit Jahresbeginn hat Japans TOPIX Index um 23% zugelegt, in den USA stieg der Russell 1000 um 16% und in Europa der STOXX Europe 600 Index um 9%. Beim Shanghai Composite sind es weniger als 6%. Im 2. Quartal ist er sogar gefallen, während andere Indizes weiter stiegen.
Optimismus
Aber gibt es denn gar nichts Positives?
Kurzfristig könnten bessere Beziehungen zwischen den USA und China ein Lichtblick sein. Wenn 2024 in Taiwan und in den USA gewählt wird, könnten sie zwar wieder auf die Probe gestellt werden, doch bei Redaktionsschluss war US-Außenminister Antony Blinken gerade auf dem Weg nach China. Bessere Kontakte wären wirklich angebracht, zumal der Wettbewerb zwischen den beiden Wirtschaftsriesen kaum nachlassen dürfte.
In den Industrieländern schwächelt die Industrie wegen der Nachfrageveränderungen nach Corona. Einzelhandel- und Dienstleistungssektor erholen sich aber, und in China könnte es vielleicht ähnlich kommen. Die chinesischen Einzelhandelsumsätze waren letzte Woche jedenfalls sehr viel besser als die Industrieproduktion; sie sind jetzt vier Monate in Folge gestiegen. Der Dienstleistungs-PMI liegt seit Jahresbeginn stets deutlich über 50 und zeigt damit Wachstum an. Außerdem lag er über den Erwartungen der Volkswirte.
Konjunkturprogramme
Vor allem aber befindet sich China in einer ganz anderen Konjunkturphase als die Industrieländer.
Es gibt fast keine Inflation, sodass die People’s Bank of China, Chinas Notenbank, letzte Woche zwei ihrer Leitzinsen gesenkt hat, die sie neun Monate lang nicht geändert hatte. Außerdem gab die Regierung eine Reihe von Hilfsprogrammen für Unternehmen bekannt, darunter Steuersubventionen und spezielle Kredite.
Die Marktteilnehmer rechnen zunehmend mit weiteren Konjunkturmaßnahmen, unter anderem einer Senkung der Mindestreservequote und Fiskalprogrammen, passend zur offiziellen Linie der Regierung. Dem Vernehmen nach bittet das Kabinett gerade seine Wirtschaftsberater um Vorschläge, und nach der Politbürositzung im Juli sind konkrete Ankündigungen zu erwarten. Die Einschränkungen für Hauskäufe und Kredite könnten gelockert werden, um dem Immobiliensektor zu helfen. Vermutlich werden auch im Sommer auf lokaler Ebene mehr Anleihen emittiert, um Infrastrukturprojekte zu finanzieren.
Zwar bleibt der Konjunkturausblick für China in diesem Jahr hinter den ersten optimistischen Erwartungen zurück, doch ist das Wachstum noch immer recht ordentlich. Die Konsenserwartungen betragen etwa 5%. Die Bewertungen des Shanghai Composite sind so niedrig wie 2019 und 2020. Falls jetzt gute Nachrichten kommen, sollte man die Enttäuschungen seit Jahresbeginn vergessen und stattdessen die mittelfristigen Chancen ins Visier nehmen.
Von Joseph V. Amato, President und Chief Investment Officer – Equities bei Neuberger Berman
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