Unsere Asset-Allokation ist eine strategische Langfristpositionierung, die wir kurzfristig an das Marktumfeld anpassen. Vor zwei Wochen schrieben wir über den Nutzen solcher taktischen Positionen und kamen zu dem Schluss, dass „kurzfristige Entwicklungen den Portfolioertrag manchmal stark beeinflussen“ können. Die erste Jahreshälfte 2023 habe uns deutlich gezeigt, „dass Anlagen allein auf Basis mittelfristiger und strategischer Einschätzungen ihre Tücken haben“.
In der letzten Sitzung des Asset Allocation Committee war der Anlagehorizont ein wichtiges Thema. Wie regelmäßige Leser wissen, waren wir in Geldmarktanlagen und Anleihen übergewichtet. Wir wollten auf attraktivere Einstiegszeitpunkte für Aktien warten – zumal das Warten wegen der hohen Zinsen gut bezahlt wurde. Die Marktentwicklung in der ersten Jahreshälfte ließ uns dann aber zweifeln.
Dabei haben wir die Konjunktur durchaus richtig eingeschätzt:
- Die Inflation blieb hoch.
- Die Notenbanken haben die Zinsen unerwartet stark erhöht.
- Das Wirtschaftswachstum ließ nach.
- Die Gewinnerwartungen der Analysten sind gefallen (wenn auch nicht so stark wie von vielen erwartet, auch von uns).
- Der enorme Zinsanstieg wurde für Teile des Finanzsystems zu einem Problem.
Vorsichtige Investoren haben mit Geldmarktanlagen und Kurzläufern gut verdient, am US-Geldmarkt seit Jahresbeginn schon über 2,5%. Der ICE BofA U.S. High Yield Index legte um 4,8% zu, der ICE Euro High Yield Index um 4,5%, schreibt FactSet.
Überrascht haben uns aber die Aktienmärkte. Nach fast 8% Wertzuwachs des S&P 500 Index im 1. Quartal haben wir unsere Einschätzung überprüft – und an der Untergewichtung festgehalten. Das galt vor allem für Mega Caps aus dem Technologiesektor, die so stark zugelegt hatten. Doch dann stieg der S&P 500 um weitere 8%, mehr denn je getrieben von den „Magnificent Seven“, den sieben großen Technologiewerten. Der gleichgewichtete S&P 500 Index liegt laut FactSet seit Jahresbeginn nur um 4,4% im Plus.
Die wichtigste Veränderung im neuen Asset Allocation Committee Outlook wird die höhere Aktienquote sein – neutral statt untergewichtet. An unseren mittelfristigen Einschätzungen hat sich zwar nichts geändert, aber kurzfristig schließen wir weitere Kursgewinne nicht aus.
Größere Marktbreite
Zum Teil lassen sich die Gewinne seit Jahresbeginn mit übertriebenen Erwartungen an „generative“ Künstliche Intelligenz erklären. Die Liquidität lässt zwar etwas nach, aber die Kassen der Anleger sind noch immer gut gefüllt. In der Rückschau überrascht es nicht, dass ein Teil davon in die „Magnificent Seven“ geflossen ist. Diese Aktien schienen auch vorher schon recht defensiv. Heute gelten sie als KI-Gewinner.
Doch wer wird am Ende von der KI profitieren? Werden die absehbaren Produktivitätsgewinne allen Aktien nützen? In drei bis sechs Monaten dürften wir klarer sehen, doch bis dahin rechnen wir mit erheblichen Kursschwankungen.
Noch interessanter ist vielleicht, dass die Marktbreite (bis zu den Kursverlusten der letzten Woche) zuzunehmen schien und dass Inflations- und Zinssorgen Platz machten für neuen Wachstumsoptimismus. In den Worten eines Ausschussmitglieds: Die Investoren feiern, dass eine weltweite Rezession dieses Jahr immer unwahrscheinlicher wird.
Weil die Inflation etwas nachlässt, dürften die Notenbanken ihre Zinserhöhungen bald beenden. Und weil sich die Investoren nicht mehr so viele Sorgen über eine ausufernde Teuerung machen und ein noch stärkerer Realzinsanstieg unwahrscheinlicher wird, gerät etwas anderes in den Blickpunkt: Die zwar allmählich nachlassende, aber noch immer hohe Inflation lässt Unternehmensgewinne und nominales BIP kräftig steigen.
All das zusammen bringt uns zu einer neutralen Aktienmarkteinschätzung.
Schuldenlast
Um es noch einmal klar zu sagen: Wir reagieren damit auf die kurzfristige Unsicherheit. Unsere Positionierung bedeutet nicht, dass wir Aktien und Konjunktur mittelfristig positiv einschätzen.
Noch immer rechnen wir damit, dass der massive Zinsanstieg, der Rückgang der Überschussliquidität und die strafferen Kreditbedingungen der Wirtschaft irgendwann schaden. Wir glauben auch nicht, dass die Zinsen auf absehbare Zeit deutlich fallen. Wenn einzelne Preistreiber wegfallen, ist das nicht das Ende der Inflation.
Eher schon wird all dies in den nächsten zwölf Monaten zu niedrigeren Gewinnmargen und Gewinnen führen – auch wenn wir zugeben müssen, dass die Unternehmen mit höheren Zinsen und steigenden Kosten bislang überraschend gut zurechtgekommen sind.
Wir glauben auch, dass dann mehr hoch verschuldete Kreditnehmer Probleme bekommen. Zunächst dürfte sich das nicht bei Aktien, sondern bei Credits zeigen. Deshalb schätzt das Asset Allocation Committee – nicht zuletzt wegen der sehr guten Performance und des Spreadrückgangs – High Yield nur noch neutral ein.
Auch langfristig rechnen wir mit einer höheren Inflation – wegen der Arbeitsmarktentwicklung, der Deglobalisierung und der weltpolitischen Herausforderungen. Das Ergebnis wären strukturell höhere Zinsen und Risikoprämien.
Damit widersprechen sich unser kurzfristiger Ausblick (der vor allem für Aktien gut ist) und unsere mittelfristige Einschätzung (für die die höheren Zinsen, die hartnäckige Inflation, die strafferen Finanzbedingungen und die nachlassende Liquidität entscheidend sind). Da wir uns heute weniger sicher sind, dass unsere mittelfristigen Einschätzungen auch kurzfristig gelten, und weil die kurzfristige Marktentwicklung generell schwer einzuschätzen ist, positionieren wir uns insgesamt neutraler. Bei klareren Signalen sind wir aber jederzeit zu einer Anpassung bereit.
Von Erik Knutzen, Chief Investment Officer – Multi-Asset Class & Niall O’Sullivan, Chief Investment Officer – Multi-Asset Class, EMEA, Neuberger Berman