Vor 140 Jahren wurde in New York die Brooklyn Bridge eröffnet. Sie quert als erste Brücke den East River und war damals die längste Hängebrücke der Welt.
Allein das ist Grund genug, David McCulloughs gewaltiges Werk aus dem Jahr 1972 zu lesen. The Great Bridge, seine Darstellung des Baus der Brücke, ist meine diesjährige Ferienlektüre. Leider liegt das Buch nur auf Englisch vor.
Wie schon in meiner ersten Leseempfehlung, Tolstois Krieg und Frieden vor sechs Jahren, und meiner letztjährigen Lektüre, Das Tor Europas: Die Geschichte der Ukraine von Serhii Plokhy, geht es auch jetzt wieder um einen Teil des größeren Ganzen. Die Brooklyn Bridge gilt als Symbol für die zweite industrielle Revolution. Das macht sie heute wieder so spannend, erleben wir doch gerade grundlegenden Wandel durch die vierte industrielle Revolution.
Wie in Walter Isaacsons Biographien von Einstein und Leonardo geht es auch hier um die Vision eines Einzelnen – oder genauer eines Mannes, seines Sohnes und seiner Frau. Wie Factfulness von Hans Rosling feiert das Buch den Fortschritt als Mittel gegen Angst und Defätismus. Die Gründe, derentwegen das Kernkraftwerk in Tschernobyl noch immer nicht wieder in Betrieb ist – mein Thema im Jahr 2020 – sind die gleichen, aus denen die Brooklyn Bridge bis zum heutigen Tag funktioniert. Trotz der enormen Kosten, der Korruption in New York der 1870er-Jahre und sozialer Unruhen setzten sich die Ingenieure durch. Alles wurde viel stabiler gebaut, als es damals nötig schien. Das sollten wir uns immer wieder vor Augen halten, wenn neue Technologien althergebrachte soziale Normen und Gesellschaftsstrukturen infrage stellen.
Ein innovativer Hybrid
Die Brooklyn Bridge war zuallererst einmal echte Ingenieurskunst – und ein technologisches Meisterwerk, so wie heute generative Künstliche Intelligenz (KI), Gensequenzierung und innovative Batterien.
Die Brücke wurde nicht etwa von Tauchern von unten nach oben gebaut. Stattdessen wurden die fertigen Pylonen auf dem Grund des East River verankert, heruntergelassen auf riesigen, druckluftgefüllten hölzernen Senkkästen. Während sie sich langsam nach unten bewegten, gruben Arbeiter Sedimentgestein und Felsbrocken allmählich weg. Es entstand ein innovativer Hybrid aus Schrägseil- und Hängebrücke. Man nutzte die Kraft vertikaler und diagonaler Seile für den Bau einer Brücke, die zwei Jahrzehnte lang die längste der Welt war.
Die Brücke blieb stabil, obwohl ein korrupter Zulieferer schlechten Draht für die Seile lieferte. Chefingenieur Washington Roebling hatte mit einer achtfachen Sicherheitsmarge gerechnet, und am Ende war die Brücke immerhin noch viermal so stabil wie nötig. Außerdem ordnete Roebling an, jedes Seil mit 150 zusätzlichen Drähten so verstärken.
Damals gab es noch keine Windkanäle, und Brücken wurden noch nicht aerodynamisch geprüft. Genau diese Redundanz hat verhindert, dass die Brücke trotz der enormen Abstände zwischen den Pylonen bei starkem Wind gefährlich hin- und herschwankte.
Zusätzliche Seile
Was hielten die New Yorker von alldem? Beruhigend schien vor allem gewesen zu sein, dass P. T. Barnum Elefanten über die neue Brücke führte – dabei wogen die Dickhäuter viel weniger als die Eisenbahnen, die sie bald überqueren sollten.
Daraus können wir auch Lehren für die heutige Zeit mit ihrem raschen technologischen Wandel ziehen – mit ihren Schnellschüssen, Desinformationen und CEOs, die Social-Media-Kanäle bespielen. Kluge Analysen und sorgfältige Ingenieurskunst sorgen für Sicherheit und mindern Risiken. Man kann sich aber nur zu leicht von Stunts und vollmundigen Versprechungen blenden lassen.
Die anhaltende Dekarbonisierung und Elektrifizierung der Wirtschaft erfordern die verstärkte Nutzung erneuerbarer Energien, die aber nicht kontinuierlich zur Verfügung stehen – und nicht zuletzt ein neues Netz. Die Energiewende muss sorgfältig geplant werden, ohne dass man es überstürzt. Hinzu kommt, dass ähnlich wie die Brückenaerodynamik in den 1870ern viele komplexe Dinge wie KI, Ökologie und Biotechnologie noch immer nur unzureichend verstanden werden, selbst von Experten.
„Zusätzliche Seile“ könnten daher sehr viel sinnvoller sein, als es scheint.
Sozialer und wirtschaftlicher Wandel
Die Brooklyn Bridge ist nicht nur ein Symbol des technischen Fortschritts, sondern auch ein Monument des sozialen und wirtschaftlichen Wandels in der zweiten industriellen Revolution.
Von den 1870ern bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden neue Maschinen entwickelt, die Fließbandproduktion kam auf, man baute Kanalsysteme und Trinkwasserleitungen, Gas- und Elektrizitätsnetze, öffentliche Verkehrsmittel, den Telegrafen und das Telefon. Hinzu kamen eine enorme Globalisierung und große Wanderungsbewegungen – von Kontinent zu Kontinent und vom Land in die Stadt.
Produktion, Industrie und Gesellschaft wurden revolutioniert. Die Kapitalrenditen stiegen kräftig, und der Wettbewerb um Arbeitsplätze wurde härter. Großunternehmen wurden zu bevorzugten Organisationsformen, was enorme Investitionen ermöglichte. Mit der Gründung der New York and Brooklyn Bridge Company stellten die beiden Städte 5 Millionen US-Dollar zur Verfügung. Außerdem wurden in den USA erste Gewerkschaften gegründet, wie die Knights of Labor und die American Federation of Labor (beide in den 1880ern kurz nach Eröffnung der Brooklyn Bridge).
Wachstum und Institutionalisierung der Kapital- und Arbeitsmärkte ließen Korruption entstehen: Neben dem betrügerischen Drahtproduzenten musste sich die New York and Brooklyn Bridge Company auch mit „Tammany Hall“ herumschlagen, einer Seilschaft in der demokratischen Partei unter Führung des berüchtigten William „Boss“ Tweed. Neben anderen fragwürdigen Praktiken profitierte er von viel zu hohen Zahlungen für öffentliche Aufträge.
Schlaglichter
Gleichzeitig wollte sich die neue Arbeiterklasse ihren Platz in der sich ändernden Wirtschaft sichern. Die Arbeitsbedingungen waren das eine Thema, Einwanderung und Globalisierung das andere. Nach heutigen Maßstäben waren die Auseinandersetzungen brutal: In der Bauzeit der Brooklyn Bridge wurden im großen Eisenbahnerstreik von 1877 etwa 100 Menschen durch Ausschreitungen getötet.
Man schätzt, dass auch 27 Arbeiter beim Bau der Brücke ihr Leben verloren, nicht durch Gewalt, sondern durch Unfälle und durch eine seltsame Krankheit jener, die in den Senkkästen schufteten, tief unter der Wasseroberfläche. Heute wissen wir, dass es die Dekompressionskrankheit war. Roebling selbst wäre durch den Bau der Brücke fast zum Invaliden geworden und war auf die Projektleitung seiner bemerkenswerten Frau Emily angewiesen. Er selber weigerte sich, dem Bau mehr als zwei Todesopfer zuzuschreiben. Der Bau der Brücke war riskant, für die Zeit aber recht gut bezahlt. Einen Großteil der Arbeit übernahmen Einwanderer, die gerade ins Land gekommen waren.
Tatsächlich war die Brooklyn Bridge sowohl das Produkt der Einwanderung als auch ein wichtiger Ermöglicher. Die ersten Pläne hatte schon Washington Roeblings Vater John gehabt. Er war in die USA ausgewandert, um den Schwierigkeiten im nachnapoleonischen Preußen zu entgehen und die enormen Möglichkeiten für Tiefbauingenieure zu nutzen. Als die Brücke fertig war, war das Pendeln zwischen Brooklyn und Manhattan erheblich leichter. Aus den bis dahin separaten Städten wurde ein einziges New York.
Die Auswirkungen waren erheblich. Es kam nicht nur zu einem direkten Wettbewerb zwischen den Arbeitern aus beiden Städten. Die Brücke bedeutete auch das Ende der bis dahin beachtlichen Fährschifffahrt auf dem East River: Zwar fuhren noch bis in die 1940er-Jahre einzelne Schiffe, doch brach der Wassertransit zusammen, als die Brücke öffnete. Arbeiter, die sich als Opfer der jüngsten Globalisierungswelle sehen, und Büroangestellte, die voller Nervosität über die KI lesen, können sich dort wiederfinden.
Eine bessere Zukunft
Wenn man das Veränderungspotenzial der Brücke kennt, versteht man besser, warum der Widerstand wuchs, als die Fertigstellung nahte. Argumentiert wurde vor allem mit den Kosten. Aber waren es wirklich Extravaganz und Eitelkeit?
Die Brücke war teuer. In heutigem Geld kostete sie etwa eine halbe Milliarde US-Dollar, und erst 1956 waren die Schulden vollständig getilgt. Anderthalb Jahrhunderte später scheint diese Diskussion wie aus der Zeit gefallen; über- und unterqueren doch mittlerweile sechs Brücken und vier Tunnel den East River. Die Schärfe, mit der zurzeit über KI diskutiert wird, über erneuerbare Energien und über eine neue Elektrizitätsinfrastruktur – und die Auswirkungen all dessen auf Wirtschaftswachstum, Inflation, Schulden und Staatsdefizite – wirken wie ein Echo des Streits um die große Brücke.
Viele der heutigen nicht immer einfachen Entscheidungen unterscheiden sich kaum von denen der Protagonisten in McCulloughs Klassiker. Können wir technologischen Fortschritt und Produktivitätswachstum mit wirtschaftlicher und sozialer Gerechtigkeit vereinbaren? Können wir technologischen Wandel, Ressourcenbedarf und Infrastruktur in den nächsten Jahren managen, ohne dass zu viel Abfall produziert wird, die Schulden zu stark steigen und zu viele Konflikte entstehen?
Innovationen sorgen für Chancen und disruptive Veränderungen. Die Geschichte lehrt uns, dass wir alle Folgen im Blick haben müssen, positive wie negative. Washington Roebling selbst sagte, dass „den Stärken der modernen Ingenieurskunst in vielerlei Hinsicht die Schwächen der modernen Zivilisation gegenüberstehen“.
Die Geschichte von Roeblings Brücke erinnert uns daran, dass viele Herausforderungen, die oft noch größer sind als die heutigen, erfolgreich angegangen wurden. Sie zeigt, wie neue Technologien und Infrastrukturinvestitionen, klug gemanagt, den Weg zu einer besseren Zukunft weisen können. In einer Welt, die immer fragmentierter zu werden droht, mit Konflikten zwischen Ländern, aber auch in den Ländern selbst, kann es doch eigentlich kaum ein besseres Symbol für die enormen Chancen, aber auch Risiken der Zukunft geben als – den Bau einer Brücke.
Von Erik Knutzen, Chief Investment Officer – Multi-Asset Class, Neuberger Berman