Viel war zuletzt von steigenden Zinsen, stabiler Konjunktur und den Zweitquartalsergebnissen der Unternehmen die Rede. Ein Thema könnte den Investoren aber entgangen sein: die möglichen Folgen eines Streiks in der amerikanischen Automobilindustrie.
Letzte Woche ermächtigten die Mitglieder der United Auto Workers (UAW) ihre Gewerkschaftsführung, bei Ford, General Motors und Stellantis (dem Eigentümer der Marken Chrysler und Jeep) einen Streik auszurufen. Ein gleichzeitiger Streik bei den „Big 3“ wäre beispiellos; bislang beschränkten sich Arbeitskämpfe meist auf einen der drei führenden Hersteller. Beispiellos sind aber auch die Forderungen der Gewerkschaft. Sie verlangt zweistellige Lohnerhöhungen und unzählige Änderungen bei Vergütungen und betrieblichen Sozialleistungen. Die Arbeitgeber wehren sich.
Gewerkschaften am längeren Hebel
Schon jetzt ist 2023 ein Jahr der Arbeitskämpfe. Von Januar bis Juli wurde in den USA 214-mal gestreikt, von 325.000 Arbeitern. Von Januar bis Juli 2022 waren es laut Cornell-ILR Labor Action Tracker 223 Streiks mit nur 76.000 beteiligten Arbeitern, von Januar bis Juli 2021 legten in 130 Streiks 28.000 Amerikaner die Arbeit nieder. In der Automobilindustrie wurde letztmals 2019 gestreikt, bei GM. Der Arbeitskampf dauerte sechs Wochen. Doch selbst dort, wo die Arbeiter dieses Jahr nicht in den Ausstand gingen, machten die Arbeitgeber erhebliche Zugeständnisse.
Letzte Woche stimmte UPS einem neuen Tarifvertrag mit Lohnerhöhungen von etwa 22% in den nächsten Jahren zu. Die Piloten von American Airlines bekommen sofort 21% mehr Geld und in den nächsten vier Jahren insgesamt etwa 45% mehr. Die Abschlüsse bei anderen Fluggesellschaften sind ähnlich. Im Dezember hatte Präsident Biden die Bahnangestellten zwar gezwungen, einen neuen Tarifvertrag ohne Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu akzeptieren, doch werden die Löhne während seiner Laufzeit um etwa 24% angehoben.
Was steckt dahinter? Offensichtlich sind Arbeitskräfte knapp. Bei einer Arbeitslosenquote von nur 3,5% sind in den USA etwa 10 Millionen Stellen unbesetzt. Das stärkt die Macht der Gewerkschaften. Hinzu kommt die hohe Inflation. Steigende Preise für Benzin, Lebensmittel, Autos und andere notwendige Dinge treiben die Arbeiter zu höheren Lohnforderungen. Und dann sind da noch die hohen Unternehmensgewinne der letzten Jahre. Es heißt, sie seien zulasten der Arbeiter gegangen. So stieg der operative Gewinn der „Big 3“, der drei großen Automobilhersteller, vor Zinsen und Steuern von 18,6 Milliarden US-Dollar 2019 auf 47,3 Milliarden in den letzten zwölf Monaten.
Die Geschäftsleitungen sorgen sich auch um die Lieferketten. Während Corona und viele Monate danach waren pünktliche Lieferungen eine Herausforderung. Verzögerungen schadeten Marken und Marktanteilen. Jetzt, wo sich die Lage normalisiert, wollen die Unternehmen keine Risiken eingehen und zahlen stattdessen lieber deutlich besser. Wegen der zwar fallenden, aber noch immer hohen Inflation glauben sie, steigende Kosten an ihre Kunden weitergeben zu können.
Und jetzt Autos
Der drohende Automobilarbeiterstreik könnte zeigen, wie sehr sich die Macht in Richtung Arbeiter verschoben hat. Der alte Tarifvertrag läuft am 14. September aus, aber noch scheinen die beiden Seiten weit voneinander entfernt.
Die Gewerkschaft fordert 46% Lohnanstieg in den nächsten vier Jahren. Außerdem sollen Zeitarbeiter und Hilfskräfte den Status von Vollzeitkräften bekommen, und die Lohnentwicklung soll wieder an den Anstieg der Lebenshaltungskosten angepasst werden. Insgesamt würden die stündlichen Arbeitskosten dann von 65 auf über 100 US-Dollar steigen. Bei Tesla liegen diese Kosten bei etwa 45, in der japanischen Autoindustrie bei 55 US-Dollar. Manche Forderungen könnten die Arbeitgeber in Schwierigkeiten bringen, etwa eine 4-Tage-Woche, die Wiedereinführung fester Betriebsrenten und ein „Familienschutzprogramm“, nach dem betriebsbedingt gekündigte Arbeitnehmer für gemeinnützige Tätigkeiten bezahlt werden sollen.
Wegen der recht stabilen Finanzen und Unternehmensgewinne kann die Autoindustrie Lohnerhöhungen vermutlich verkraften. Die großen Drei fürchten aber, bei umfassenden Tarifvertragsänderungen gegenüber Firmen ohne gewerkschaftliche Vertretung und internationalen Wettbewerbern ins Hintertreffen zu geraten – und das in einer Zeit, in der Elektromobilität immer wichtiger wird. Sie macht es aber auch den Gewerkschaften nicht leicht: Nach unseren Schätzungen braucht man für die Herstellung batteriebetriebener Autos etwa 30% weniger Arbeiter als für klassische PKW und LKW mit Verbrennungsmotor.
Die Automobilarbeitergewerkschaft verfolgt heute eine andere Taktik als früher. Traditionell verhandelte die UAW im Geheimen. Jetzt veröffentlicht Gewerkschaftschef Shawn Fain regelmäßige Updates in den sozialen Medien. Vor allem aber droht die Gewerkschaft einen gleichzeitigen Streik gegen alle drei Hersteller an, statt sich einen herauszugreifen. Für die Autoindustrie steht dadurch mehr auf dem Spiel. Für die Gewerkschaft aber auch; die Streikkasse könnte sich schnell leeren. Zurzeit ist sie mit 825 Millionen US-Dollar gefüllt. Werden alle drei Unternehmen bestreikt, könnte das für gut elf Wochen reichen.
Weitere Folgen
Zwar sind nur etwa 10% der amerikanischen Automobilarbeiter gewerkschaftlich organisiert, doch könnten die Verhandlungsergebnisse aus Detroit und anderen Städten gesamtwirtschaftliche Folgen haben. Arbeitsunterbrechungen durch Streiks sind das eine, höhere Kosten und steigende Inflationserwartungen bei massiven Lohnerhöhungen das andere. Die psychologischen Folgen könnte man noch lange spüren, auf Gewerkschaftsversammlungen, in den Pausenräumen der Arbeiter und in den Vorstandsetagen.
Natürlich wird die Lohnentwicklung nicht spurlos an den Gewinnmargen vorübergehen, vor allem, wenn Preiserhöhungen nicht mehr so leicht durchsetzbar sind. Der Fed könnte es dann schwerer fallen, die Wirtschaft weich landen zu lassen. Wenn die Löhne weiter stark steigen, wird die gefürchtete Lohn-Preis-Spirale wahrscheinlicher. Der Verzicht auf weitere Zinserhöhungen wird dann schwieriger.
Vorübergehende Arbeitsniederlegungen hält man am Markt meist für unproblematisch, da die Arbeit irgendwann wieder aufgenommen wird und die Rückstände abgearbeitet werden (mit Ausnahme der Absatzverluste an nicht bestreikte Wettbewerber). Wichtiger sind unserer Ansicht nach die Auswirkungen der Lohnerhöhungen auf die Inflation. Sie ist seit dem Höchststand im Sommer 2022 kontinuierlich gefallen. Sollte sich das aber umkehren, hätte das enorme Folgen für die Geldpolitik und die Wahrscheinlichkeit einer weichen Landung. In diesem Herbst wird die Automobilindustrie ein wichtiger Frühindikator für die Inflationsentwicklung sein.
Von Joseph V. Amato, President und Chief Investment Officer – Equities bei Neuberger Berman