In dieser Zeit des Jahres denke ich immer darüber nach, wie saisonal unser Geschäft oft ist. Anfang September kehren viele Investoren aus dem Urlaub zurück, die Sauregurkenzeit ist vorbei, man vergleicht das Erreichte mit seinen Zielen und plant für das neue Jahr. Auch an den Märkten tut sich oft viel, denn die Liquidität ist zurück.
Es ist fast wie ein Startschuss für den Jahresendspurt. Aber ist es ein 100-Meter-Lauf, bei dem einfach nur der Schnellste gewinnt, oder ein 110-Meter-Hürdenlauf mit vielen Hindernissen, an denen man scheitern kann?
Ende des Monats trifft sich unser Asset Allocation Committee. Bevor wir unsere Einschätzungen für die nächsten sechs bis 18 Monate formulieren, wollen wir diese Frage beantworten. Lesen Sie, welche Themen wir bis zum Jahresende für besonders wichtig halten.
Der nächste Wendepunkt
Beginnen wir mit der Konjunktur, gefolgt von der Einzelwertperspektive.
Wird die Wirtschaft einen Wende- oder Kipppunkt erleben? Hier sehen wir vor allem drei Möglichkeiten: erstens ein wesentlich schwächeres Wachstum, obwohl die Inflation weiter deutlich über ihrem Zielwert liegt. Das wäre denkbar, wenn steigende Ölpreise in den nächsten Monaten Sekundäreffekte auslösen. Unsere Sorge ist, dass die Verbraucher irgendwann auf die höheren Preise reagieren. Die Notenbankliquidität ist zwar noch immer hoch, und die Kassen von Unternehmen und Verbrauchern bleiben gut gefüllt, aber wichtiger könnten die Flows sein. Sie ist seit einiger Zeit negativ.
Genau im Blick behalten wir auch den immer stärkeren Abschwung in China und die damit einhergehenden Immobilienmarktprobleme. Die Lage ist komplex und schwächt die Weltwirtschaft schon jetzt. Vielleicht dämpft sie aber auch die Inflation.
Eine andere Frage ist, wie und wann die japanische Notenbank ihre Geldpolitik normalisiert, zumal der US-Dollar gegenüber dem Yen zuletzt aufgewertet hat. Die Antwort der Bank of Japan könnte weltweit große Auswirkungen auf die Volatilität haben – nicht nur von Wechselkursen, sondern auch von langfristigen Anleihenrenditen.
Und dann sind da noch die amerikanischen Realzinsen. Obwohl sie nur noch knapp unter ihren Höchstständen seit 2008 liegen, sind die Aktienbewertungen noch nicht gefallen. Auch könnten durchaus höhere Laufzeitprämien nötig sein – wegen der sehr aktiven Fiskalpolitik und der wenig nachhaltigen Staatsschulden. Es kann durchaus sein, dass der ausgabefreudige Staat die Bemühungen der Fed um eine niedrigere Inflation unterläuft. Wir warten darauf, dass sich die höheren Laufzeitprämien in den Kursen zeigen.
Probleme bei Credits
Kommen wir zur Einzelwertperspektive. In den Quartalszahlen achten wir genau auf fallende Margen durch steigende Löhne und Zinsen, vor allem bei Firmen mit hohen variablen Kosten und Schulden. Sie könnten besonders unter der Stagflation leiden, wenn sie höhere Kosten nicht mehr so leicht an ihre Kunden weitergeben könnten.
Ein anderes Thema sind Schwächen am Credit-Markt, weil immer mehr High-Yield-Anleihen zur Refinanzierung anstehen und immer später mit den ersten Zinssenkungen gerechnet wird. Teure Refinanzierungen werden dadurch wahrscheinlicher. Vielleicht ist dieses Risiko besonders offensichtlich. Es könnte dann schon bald Auswirkungen auf die Kurse haben, als frühe Warnung vor einer generell höheren Volatilität.
Mit Veränderungen rechnen
Auf seiner letzten Sitzung ist unser Asset Allocation Committee alles in allem zu einer neutralen Einschätzung gewechselt. Damit reagierte es auf die Widersprüche zwischen Kurz- und Mittelfristausblick.
Weil so vieles bis zum Jahresende für Volatilität sorgen kann, überrascht es nicht, dass unsere auf den ersten Blick neutralen Einschätzungen durchaus defensiv sind. Wir werden sie auf der nächsten Sitzung genau prüfen. Wir sehen eher einen Hürdenlauf als einen Sprint.
Defensiv sein heißt für uns, dass wir bei Aktien und Credits auf Qualität setzen, vor allem auf Emittenten mit hohem freiem Cashflow, gut gefüllten Kassen und günstigem langfristigem Fremdkapital. Unabhängig vom Geschäftsumfeld erhalten sie für ihre Barmittel zurzeit höhere Zinsen, als sie für ihre vor 2022 begebenen Anleihen zahlen müssen. Weil wir Wert auf Qualität legen, bevorzugen wir auch Emerging-Market-Anleihen gegenüber High Yield.
Bei Staatsanleihen aus den Kernländern ist es komplizierter. Hier wird noch angeregt diskutiert, im Multi-Asset-Team selbst, aber auch zwischen uns und den Kollegen aus dem Anleihenbereich. Weil die Langfristrenditen am oberen Ende der Spanne liegen, die wir für dieses Jahr prognostiziert haben, scheinen sie attraktiv. Wenn aber höhere Laufzeitprämien verlangt werden, könnten die Langfristrenditen noch weiter steigen.
Alles in allem rechnen wir mit Veränderungen. Wir können uns immer schwerer vorstellen, dass sich das Marktumfeld nicht ändert. Das passt zur Jahreszeit. Widmen wir also unsere gesamte Aufmerksamkeit dem Rennen – und denken nicht mehr über die Qualifikationsläufe vom Vortag nach.
Von Erik Knutzen, Chief Investment Officer – Multi-Asset Class, Neuberger Berman