Die heutigen CIO Weekly Perspectives stammen von unserer Gastautorin Sarah Peasey.
2023 geht zu Ende, und wahrscheinlich wird es das wärmste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen. Erstmals war an einem Tag die weltweite Durchschnittstemperatur um 2 °C höher als in der vorindustriellen Zeit, ein wichtiger Grenzwert. Selbst wenn die 28. UN-Weltklimakonferenz (COP28) nicht in den Vereinigten Arabischen Emiraten stattfände, in der ölreichen Golfregion, wären die Erwartungen gering.
Dieses Jahr wird auch der erste „Global Stocktake“ vorgelegt, die erste der auf der Pariser Klimakonferenz vereinbarten fünfjährigen Bestandsaufnahmen. Auch deshalb meinen wir, dass man frühere Versäumnisse und künftige Herausforderungen nüchtern analysieren sollte. Zugleich muss man aber auch die erzielten Fortschritte anerkennen.
Herausforderungen erkennen
Im März dieses Jahres schätzte das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), dass die menschengemachten Emissionen bis 2030 um 45% gegenüber 2010 zurückgehen müssen, um die Erderwärmung auf 1,5 °C zu begrenzen.1 Die Emissionen steigen aber noch immer. Manche einflussreiche Gruppen – wie das von Notenbanken und Aufsichtsbehörden initiierte Network for Greening the Financial System (NGFS) – halten das 1,5°-Szenario schon jetzt für eher unwahrscheinlich. Eine erfolgreiche unkoordinierte Energiewende sei unwahrscheinlicher geworden.2
Die Internationale Energieagentur (IEA) hält die bisherigen Fortschritte für ausreichend, um hoffen zu können, dass die Nutzung fossiler Energien noch in diesem Jahrzehnt wieder fällt. Sie weist aber auch darauf hin, dass die Nutzung 2030 um über 30% niedriger sein muss als heute, damit ihr Netto-Null-Szenario Realität wird.3
Eine derart starke Verringerung in nur sieben Jahren scheint viel verlangt, vor allem wegen der großen Herausforderungen für viele Sektoren, die daran mitarbeiten müssen. So müssen Offshore-Windparks mit höheren Rohstoffpreisen und Zinsen zurechtkommen. Unmoderne Elektrizitätsnetze erweisen sich als ebenso große Hürde wie die schleppende Entwicklung nachhaltiger Flugzeugtreibstoffe und Alternativen zu Lithium-Ionen-Batterien.
Die Politik des Klimawandels
Und dabei geht es nur um Forschung und Technologie. Wenn dann noch die Politik hinzukommt, sieht es noch düsterer aus.
Die weltweite Inflation, der massive Anstieg der Lebenshaltungskosten und die hohen Staatsschulden machen den Klimawandel auch im politischen Mainstream zu einem umstrittenen Thema.
Um Stimmen zu gewinnen, ergänzen rechte Parteien in Europa ihre üblichen Forderungen um die Ablehnung von Klimaschutzmaßnahmen. Umfragen zufolge mögen viele Wähler die Netto-Null unterstützen, wenn die Frage hinreichend abstrakt gestellt wird. Sobald aber von höheren Kosten für sie selbst die Rede ist, lehnen sie sie ab. Auf der COP28-Konferenz wollte die Europäische Kommission eigentlich ein ehrgeizigeres Emissionssenkungsziel vorstellen, verzichtet jetzt aber darauf wegen des Widerstands aus Ländern wie Polen, Ungarn und Italien.
Es ist deshalb kaum mit ehrgeizigeren nationalen Emissionssenkungszielen (Nationally Determined Contributions, NDCs) zu rechnen. Die Politiker sind erst einmal aus dem Schneider, weil der Global Stocktake ohnehin keine Anreize dafür enthält. Er analysiert nämlich nicht die Beiträge einzelner Länder, sondern nur den bisherigen Gesamteffekt. Neue NDCs werden erst 2025 vorgelegt. Das macht es aus unserer Sicht unwahrscheinlicher, dass man sich auf einen allmählichen Verzicht auf fossile Brennstoffe einigt.
Drohender Protektionismus
Das heißt aber nicht, dass es gar keine Fortschritte gäbe. 2023 mag das Jahr der Rekordtemperaturen und Rekordemissionen sein, aber es wurde auch so viel in grüne Energie investiert wie nie zuvor. Die 31 Mitgliedsstaaten der IEA gaben allein gut 25 Milliarden US-Dollar für einschlägige Forschungs- und Entwicklungsprojekte aus.
Letztes Jahr setzten die USA mit dem Inflation Reduction Act (IRA) ein klares Zeichen: Er könnte die Lücke zwischen den bisherigen Maßnahmen der USA und dem Klimaziel für 2030 zu zwei Dritteln schließen. Die Europäische Union (EU) hat den Net-Zero Industry Act, den Critical Raw Materials Act und das Europäische CO2-Grenzausgleichssystem verabschiedet und führt die CO2-Grenzabgabe ein, die – ein weltweites Novum – Zölle auf die CO2-Emissionen klimaschädlicher Güter vorsieht, die nach Europa importiert werden. Dazu zählen unter anderem Stahl und Zement.
Auffällig ist, dass viele dieser Maßnahmen als Förderung der Rohstoffsicherheit, des Wirtschaftswachstums und der Beschäftigung im Rahmen der Energiewende beschrieben werden. Eine wichtige Rolle spielten Chinas Erfolge etwa bei Solarpanels, Batterien und Elektroautos. Kurzfristig können sich die Maßnahmen auszahlen, aber letztlich haben wir es mit einem Nullsummenspiel zu tun, das die Entwicklung und den Ausbau relevanter Technologien verlangsamen kann. Die Auseinandersetzungen innerhalb der EU führen schon jetzt zu Unklarheiten über künftige Subventionen. Außerdem ist offen, wie „kritische Netto-Null-Technologien“ definiert werden, vor allem angesichts des amerikanischen IRA, der die Fortschritte der EU bremsen könnte.
Durch protektionistischen Wettbewerb zwischen den drei großen Handelsblöcken dürften sich diese Probleme auf Weltebene wiederholen. Um ein Gleichgewicht zwischen Dekarbonisierung, Energiesicherheit und nicht zu hohen Energiepreisen zu finden, ist internationale Klimadiplomatie nötig.
Finanzierung eines „gerechten Wandels“
Viele Wähler dürften höhere Klimaschutzausgaben im Land selbst nicht leicht akzeptieren. Aber wie schwierig wird es dann erst sein, die für weltweiten Klimaschutz erforderlichen Ausgaben zu begründen?
Es überrascht daher nicht, dass die Entwicklungsländer wegen der langsamen Fortschritte der Just Energy Transition Partnerships (JETPs) immer unzufriedener sind. Dieser Finanzierungsmechanismus wurde auf der COP26-Konferenz eingeführt und soll Geld für den Klimaschutz von reicheren in ärmere Länder umleiten.
Die Finanzierung des Klimaschutzes ist eine Herausforderung. Noch größer werden die Schwierigkeiten aber dadurch, dass man die Folgen der Erderwärmung mehr und mehr spürt. Im 2023 Adaptation Gap Report des UN-Umweltprogramms heißt es, dass die weltweiten Transfers zur Finanzierung des Klimaschutzes in den Entwicklungsländern 2021 auf 21 Milliarden US-Dollar gefallen sind, obgleich die COP26-Konferenz eine Verdopplung auf etwa 40 Milliarden US-Dollar bis zum Jahr 2025 beschlossen hat. 21 Milliarden US-Dollar sind höchstens ein Zehntel dessen, was bis zum Ende dieses Jahrzehnts schätzungsweise jedes Jahr nötig ist.4
Die Einführung eines Entschädigungsfonds (Loss and Damage Fund) auf der COP27-Konferenz galt letztes Jahr als einer der wenigen Erfolge. Mittlerweile hat sich das Transitional Committee on Loss and Damage des UN-Klimaschutzabkommens auf ein Konzept für den Fonds verständigt, der 2024 aufgelegt werden soll.5 Die Entwicklungsländer haben sich sehr kompromissbereit gezeigt. Sie akzeptierten, dass die Weltbank nur vorübergehend für diesen Fonds verantwortlich ist.
Und doch fehlt es noch immer an klaren Verantwortlichkeiten für die Industrieländer – und an konkreten Auszahlungszielen. Damit sich hier etwas verbessert, ist Weiterbildung nötig: Schadensbegrenzung scheint besser verstanden zu werden als Anpassung an den Klimawandel. COP28 bietet eine hervorragende Plattform für Weiterbildung und für Innovationen, um das wachsende Defizit bei Anpassungsmaßnahmen zu verringern.
Vier Anzeichen für Fortschritte, auf die man achten sollte
Damit kommen wir zu der Frage, auf welche Anzeichen für Fortschritte man trotz der geringen Erwartungen an COP28 achten sollte. Vier Dinge scheinen uns wichtig:
1. Private Finanzierungen von Maßnahmen in den Entwicklungsländern: Staatliche Ausgaben mögen ein Politikum sein, aber wir sehen die Chance zu einer Reform des internationalen Finanzsystems. Gemeinsam könnten private Stakeholder den hohen Finanzbedarf decken, vor allem durch die Erschließung des enormen Potenzials internationaler Entwicklungsbanken, das dann um privates Kapital ergänzt wird.
2. Bessere internationale Zusammenarbeit und Diplomatie: Die Ergebnisse des ersten Global Stocktakes könnten Potenziale für Gemeinschaftsinitiativen aufzeigen, unter anderem eine gewisse Rücknahme des derzeitigen Protektionismus. Unserer Ansicht nach kann die Netto-Null nur von allen Stakeholdern gemeinsam erreicht werden, wenn Regierungen, Wirtschaft und Gesellschaft zusammenarbeiten.
3. Die Erkenntnis, dass Öl und Gas nicht nur das Problem, sondern Teil der Lösung sind: Das internationale Energiesystem und die Weltwirtschaft beruhen zurzeit auf Öl und Gas. Wir halten es für unumgänglich, dass die Politik die Stärken dieses Sektors nutzt, etwa seine Fähigkeit, Projekte zu steuern, seine stabilen Finanzen und seine Erfahrung in der Integration neuer Technologien – nicht nur, um die Exploration auszubauen, sondern auch zur Dekarbonisierung.
4. Mehr Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen Klimawandel und anderen weltweiten Herausforderungen: Wir können nicht wirklich etwas gegen das Artensterben tun, ohne den Klimawandel zu begrenzen – und umgekehrt. Mehr Lieferkettentransparenz sorgt für bessere Informationen nicht nur über Emissionen, sondern auch über Menschen- und Arbeitnehmerrechte. COP28 kann hier für einen Bewusstseinswandel sorgen und das weitverbreitete Silodenken verringern. Die Konferenz kann Regierungen und Aufsichtsbehörden ermutigen, von Unternehmen Informationen über finanziell relevante Risiken zu verlangen. Dazu zählen etwa die Risiken, die das International Sustainability Standards Board (ISSB) definiert hat.
Wenn es bei wenigstens einem dieser vier Themen Fortschritte gibt, könnte COP28 am Ende doch noch erfolgreicher sein als befürchtet.
Von Sarah Peasey, Head of Europe ESG Investing bei Neuberger Berman
1https://www.ipcc.ch/assessment-report/ar6/