Schon oft haben wir hier über den Nutzen von Gleichgewichten und Diversifikation geschrieben – aber auch einer gewissen Bescheidenheit. „Glücklich ist, wer Unrecht hat“ war vor einigen Jahren einmal der Titel.
Dieses Jahr bestätigte sich das erneut. Die Konjunktur war überraschend stabil, die Aktienmärkte waren stark und die Anleihenrenditen stiegen kräftig. Das bestimmte die Themenauswahl für unseren Ausblick Solving for 2024. Wir haben intensiv überlegt, was sich hinreichend sicher prognostizieren lässt.
Dabei zeigte sich aber noch etwas anderes: Viele unserer Themen betrafen börsennotierte und nicht börsennotierte Anlagen gleichermaßen.
Liquiditätsgrade
Wenn wir börsennotierte und nicht börsennotierte Titel gemeinsam betrachten, verabschieden wir uns von der klassischen Zweiteilung in „traditionelle“ liquide und „alternative“ illiquide Anlagen.
Im Mittelpunkt steht dann das Gleichgewicht zwischen verschiedenen Risiken – Zins-, Kredit-, Aktien- und Inflationsrisiko –, auf die man mit liquiden oder weniger liquiden Anlagen setzen kann. Investoren können die gewünschten Risiken eingehen und sich dabei für die Portfolioliquidität entscheiden, die zu ihren individuellen Zielen und ihrem Anlagehorizont passt.
Diese Idee stand auch auf der Longlist möglicher Themen für Solving for 2024. Aber dann entschieden wir uns dagegen, weil sie in unsicheren Zeiten zu theoretisch schien – aber auch, weil sie eine separate Analyse wert ist.
Denn das Thema ist wichtig.
Eine weniger strikte Trennung zwischen liquiden und illiquiden Anlagen ist Teil der Rückbesinnung auf die Grundlagen des Investierens. Unserer Ansicht nach zeigt sie den Wunsch, sich weniger mit der Unsicherheit der Märkte als mit der Sicherheit der eigenen Anlageziele zu befassen, einschließlich des Anlagehorizonts. Vielleicht hat man dann Vorteile gegenüber kurzfristig denkenden Marktteilnehmern, die von der Volatilität hin- und hergerissen werden.
Kein Silodenken mehr
Das ist nicht der einzige Vorteil, wenn man das Silodenken aufgibt und nicht mehr strikt zwischen liquiden und illiquiden Anlagen trennt. Man erweitert auch sein Anlageuniversum.
Es gibt viel mehr Unternehmen im Besitz von Private-Equity-Investoren als börsennotierte Aktiengesellschaften. Der Abstand wächst weiter, ebenso wie Größe und Einfluss vieler nicht börsennotierter Unternehmen. Wenn man sie ignoriert, verzichtet man vielleicht auf einen wichtigen Teil der Weltwirtschaft.
Wer liquide, teilweise liquide und illiquide Marktsegmente gemeinsam betrachtet, kann auch Bewertungsunterschiede nutzen, bei Credits wie bei Aktien. Vielleicht sind Bankkredite zurzeit attraktiver als High Yield, und vielleicht ist Private Debt attraktiver als beides. Selbst die Anleihen und Loans ein- und desselben Emittenten können unterschiedlich bewertet sein.
Bei einer derart breiten Sicht erkennt man auch leichter die komplexen Zusammenhänge zwischen Börsen und außerbörslichen Märkten, die ebenfalls Chancen bieten können. Das zeigen auch manche unserer Solving-Themen, etwa im Anleihenbereich.
Das Thema Ausfallquotenentwicklung zeigt, dass ein vollständiger Credit-Ausblick sowohl mögliche Belastungen für Unternehmen als auch nicht öffentliche Restrukturierungsgespräche zwischen Kreditgebern und Kreditnehmern berücksichtigen muss.
Hinzu kommt unser Private-Capital-Thema „Wenn Kapital knapp ist, kann das für Kapitalgeber nur gut sein“. Es beruht auf der Beobachtung, dass ein klassischer Exit über die Börse zurzeit nicht einfach ist – und dass die Anleihen- und Loanmärkte nicht börsennotierten Unternehmen zurzeit zu wenig Fremdkapital zur Verfügung stellen.
Silodenken – liquid oder illiquide, börsennotiert oder nichtbörsennotiert – kann dazu führen, dass Investoren diese Chancen verkennen.
Liquidität passend zum Anlagehorizont
So wichtig die Stärken einer integrierten Betrachtung sind – es gibt noch einen weiteren, vielleicht noch wichtigeren Vorteil: Ohne Silodenken können Investoren ihren vielleicht wichtigsten und oft übersehenen Vorteil nutzen: die Kenntnis ihrer Anlageziele und vor allem ihres Anlagehorizonts. Dadurch wissen sie, wie viel Illiquidität sie kurzfristig akzeptieren können.
Das ermöglicht eine dreidimensionale Bewertungsanalyse: Vergleichen lassen sich dann nicht nur die Bewertungen unterschiedlichen Anlagen mit ähnlichen Risiken aber unterschiedlicher Liquidität. Man kann aber auch die Liquidität zum eigenen Anlagehorizont und dem Zeitraum in Beziehung setzen, über den wir Verluste tolerieren. Weil dieser Zeitraum meist länger ist als der übliche Marktzyklus, können illiquide bzw. nicht börsennotierte Anlagen sowie Buy-and-Hold-Strategien dann attraktiver erscheinen.
Warum sollte man sich der unberechenbaren Marktvolatilität aussetzen, wenn risikolose Cashflows oder eine bis zur Endfälligkeit gehaltene Staatsanleihe gut zu unseren Anlageanforderungen passen? Und warum sollte man nicht zumindest einen Teil der Aktien in interessante nicht börsennotierte Buyouts investieren, wenn man aktienähnliche Erträge braucht, aber in den nächsten zehn Jahren nicht verkaufen will?
Es wäre keine Überraschung, wenn immer mehr Investoren auf die alte Trennung zwischen börsennotierten und nicht börsennotierten Titeln verzichteten. Dann können sie sich für eine Portfolioliquidität entscheiden, die zu ihren individuellen Zielen und ihrem Anlagehorizont passt.
Wenn Wirtschaft und Märkte unsicherer werden, sollten Anleger unserer Ansicht nach Wert auf klar Konzepte legen – und dann mit umso mehr Überzeugung investieren.
Von Erik Knutzen, Chief Investment Officer – Multi-Asset Class, Neuberger Berman