Jeden Januar bitten wir unsere Analysten um ihren Ausblick für die großen Marktsektoren im neuen Jahr.
Wegen der Wahlen in den USA, des absehbaren Konjunkturabschwungs und der Aussicht auf die ersten Zinssenkungen seit 2020 dürfte es auch im neuen Jahr nicht langweilig werden. In dieser und der nächsten Ausgabe der CIO Weekly Perspectives berichten wir über einige aus Sicht unserer Analysten wichtige Themen. Wir beginnen mit den Sektoren Gesundheit, Energie sowie Elektrizität und Versorger.
Gesundheitsdienstleistungen: Wahlen und Geldpolitik
Für Ari Singh, unseren Analysten für den Gesundheitsdienstleistungssektor, werden 2024 wie schon im alten Jahr vor allem Makrothemen wichtig sein. Letztes Jahr drehte sich alles um die Auswirkungen der höheren Zinsen. Auch dieses Jahr wird die Geldpolitik eine wesentliche Rolle spielen, ebenso wie die Wahlen in den USA und die Erwartungen an die Politik.
Zwar drohen kaum noch größere Gesetzesvorhaben, die dem Sektor schaden, aber die gesundheitspolitischen Vorstellungen der beiden führenden Präsidentschaftskandidaten unterscheiden sich erheblich – und der Wahlausgang dürfte so knapp werden, dass er sich zurzeit nicht seriös prognostizieren lässt.
Sollte Trump gewinnen, werden wohl die Erstattungen im Rahmen des Medicare-Advantage-Programms erhöht. Der Gesundheitsdienstleistungssektor als Ganzes, vor allem aber Anbieter von Medicare-Advantage-Plänen, dürften davon profitieren. Investitionen in diesen binnenorientierten Sektor könnten Anlegern auch Schutz vor der Trump’schen Außenhandelspolitik bieten.
Manchen Aktien könnten aber auch die demokratischen Medicaid-Richtlinien helfen, öffentliche Krankenversicherungsbörsen und bessere Leistungen bei psychischen Erkrankungen. Aber das betrifft nur wenige Titel.
Pharmazie, Lifesciences & Hilfsmittel, Medizintechnik: Mean Reversion?
Bis auf wenige große Aktien lagen die Sektoren Pharmazie sowie Lifesciences & Hilfsmittel 2023 hinter dem Markt. Kommt 2024 die Mean Reversion?
Wir meinen, dass Lifesciences & Hilfsmittel, aber auch Medizintechnik von den Wahlen kaum betroffen sind. Für Large Caps aus dem Pharmasektor gilt das nach Einschätzung unserer Analystin Terri Towers aber vielleicht nicht. Beispielsweise könnten die mit dem Inflation Reduction Act geplanten Reformen den Herstellern von Medikamenten langfristig schaden, die unter Medicare „Part D“ fallen. Generell schadet die Unsicherheit in Wahljahren Pharmaaktien, sodass die derzeitigen Mehrerträge nachlassen könnten. Sollten die Republikaner im November aber überzeugend gewinnen, wäre eine kräftige Erleichterungsrallye möglich.
Neben dem Wahlrisiko haben wir auch neue Medikamentenkategorien analysiert. Wir glauben, dass manche Behandlungsverfahren wie Gentherapie und Genome Editing sowie Antikörper-Wirkstoff-Konjugate (ADCs) für onkologische Anwendungen irgendwann für Anleger interessant werden. Aber das braucht Zeit. Wir rechnen auch mit weiterem starkem Wachstum des Marktes für Adipositas-Medikamente und glauben, dass der zurzeit aus der Mode geratene Markt für Alzheimer-Behandlungen in der zweiten Jahreshälfte vor einem Wendepunkt steht.
Optimistischer ist Terri Towers für Lifesciences & Hilfsmittel. Niedrigere Zinsen sowie mehr Fusionen und Übernahmen könnten diesen wachstumsstarken, aber fragmentierten Teilsektoren helfen, zumal die Erwartungen angehoben werden und die Gewinne überdurchschnittlich steigen dürften. Bei wichtigen Hilfsmitteln scheinen die Bewertungen zwar recht hoch, doch könnten die Aktien von Auftragsforschungsinstituten 2024 wieder zulegen und zu einer interessanten Alternative werden.
Schließlich schätzt unser Analyst Eric Boland den Medizintechniksektor in diesem Jahr positiv ein, vor allem wegen der hohen Nachfrage aus der Chirurgie. Die generelle Unsicherheit eines Wahljahres kann dem Sektor nicht viel anhaben. Außerdem reagiert er meist kaum auf eine schwächere Konjunktur, und der nachlassende Kostendruck dürfte ihm im Laufe des Jahres helfen. Letztes Jahr gerieten Medizintechnikwerte unter Druck, weil man in den neuen Adipositas-Medikamenten eine Konkurrenz sah. Wir glauben aber, dass sich die Einschätzung inzwischen stark geändert hat.
Energie: Überraschende Schwemme
Für den Energiesektor war der Jahresbeginn nicht einfach, da man ein zu hohes Angebot und eine schwächere Konjunktur fürchtete.
Wie unser Analyst Jeff Wyll schreibt, hat das Ölangebot in zweierlei Hinsicht überrascht: Die unsichere Weltlage hat ihm bislang nur wenig geschadet; vor allem die russischen Ölexporte sind kaum zurückgegangen. In den USA wiederum ist die Förderung überraschend stark gestiegen. Daran änderten auch die erfreulicherweise verbesserte Kapitaldisziplin der meisten gelisteten Öl- und Gaskonzerne nichts, die weniger stark wachsen und mehr ausschütten wollen. Der Anstieg der US-Ölförderung hat viel mit effizienteren Bohrungen und vielleicht auch mit höheren Investitionen privater Ölunternehmen zu tun.
Der überraschend starke Fördermengenanstieg im alten Jahr veranlasste die OPEC zu weiteren Stützungsmaßnahmen. So senkte Saudi-Arabien die tägliche Ölförderung um 1 Million Barrel und wird diese Kürzung wohl bis März beibehalten. Deshalb und wegen der anhaltenden Auseinandersetzungen im Nahen Osten notiert der Ölpreis noch immer über 70 US-Dollar je Barrel. Teureres Öl ist zwar gut für den Energiesektor, nimmt der US-Ölindustrie aber auch den Anreiz, weniger zu fördern. Laut Jeff Wyll wird sich die Stimmung am Markt nur dann wieder verbessern, wenn die US-Förderung sinkt.
Die Erdgaspreise waren volatil. Auf den warmen Dezember in Nordamerika folgte ein kälterer Januar. Wir denken aber langfristiger: Die mittelfristige Nachfrage, vor allem nach Flüssigerdgas (LNG) aus den USA, könnte ab 2025 zu einem knapperen Angebot und steigenden Preisen führen. Dieses Thema könnte allmählich wichtiger werden.
Sowohl Öl als auch Gas sind konjunktursensitiv. Angebot und Nachfrage reagieren auf größere Preisänderungen in beide Richtungen, was die Preise dann wieder stabilisiert. Außerdem sind die Bewertungen attraktiver geworden, und man kann sich mit Energiewerten gegen wachsende Auseinandersetzungen im Nahen Osten absichern. Trotz des unklaren Kurzfristausblicks sollte man unserer Ansicht nach weiterhin in den Sektor investieren.
Elektrizität & Versorger: Auf die Energiewende kommt es an
Für die Stromproduzenten und den Versorgersektor dürften 2024 und für längere Zeit die Energiewende und Elektrifizierung die wichtigsten Themen bleiben. Davon dürften sowohl konjunktursensitive unabhängige Stromerzeuger als auch defensive Versorger profitieren. Manche Entwicklungen beschleunigen die Elektrizitätsnachfrage gleich doppelt: Elektroautos brauchen nicht nur Strom, um zu fahren. Auch ihre Herstellung erfordert wesentlich mehr Elektrizität als die Produktion klassischer Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor.
Bei all dem spielt der Inflation Reduction Act eine Rolle, der bei einem republikanischen Wahlsieg im November infrage gestellt werden könnte. Viele Befürchtungen halten wir aber für übertrieben, da ein Großteil der Ausgaben republikanischen Bundesstaaten oder Swing States zugutekommen soll.
Außerdem rechnen wir in diesem Jahr mit mehr Klarheit bei der Regulierung des amerikanischen Wasserstoffmarktes. Wir können uns vorstellen, dass der Sektor dadurch Auftrieb erhält. Wir sind der Meinung, dass einige Energiemärkte, wie z. B. Texas, viel angespannter sind, als die Anleger es erwarten. Wie schon erwähnt, sehen wir 2025 auch Chancen durch eine steigende Nachfrage nach amerikanischem Flüssigerdgas.
Ein weiteres neues Thema ist die Revolution der Künstlichen Intelligenz (KI). Die neuen Datenzentren brauchen mindestens fünfmal so viel Elektrizität wie ihre Vorgänger. Der hohe Elektrizitätsbedarf der KI könnte für die Versorger zu einer großen Herausforderung werden. Wir glauben, dass Investoren, Unternehmen, Aufsichtsbehörden und Politiker in den nächsten Jahren genau auf mögliche Ungleichgewichte von Angebot und Nachfrage achten sollten.
Andererseits sehen wir im absehbaren Konjunkturabschwung 2024 ein großes Risiko für den Sektor. Unser Analyst Ronald Silvestri empfiehlt daher eine Barbell-Struktur, mit defensiven Versorgern sowie zyklischen Pipelinebetreibern und unabhängigen Stromerzeugern. Wer eine starke Meinung zur Konjunktur hat, kann sich natürlich auch auf einen dieser beiden Bereiche beschränken.
2023 lagen Versorgerwerte so stark hinter dem Markt zurück wie seit 40 Jahren nicht mehr. Grund waren die steigenden Zinsen und das geringe Anlegerinteresse an defensiven Aktien. Jetzt sind die Bewertungen attraktiv. Eine Marktkonsolidierung scheint möglich, und die Energiewende dürfte erhebliche Chancen bringen. Dennoch muss man wählerisch sein, vor allem wegen aufsichtsrechtlicher Risiken in den einzelnen amerikanischen Bundesstaaten.
Die unabhängigen Stromerzeuger scheinen uns fair bewertet. Sie erzielen hohe freie Cashflows, profitieren von der Elektrifizierung und reagieren auf die Rohstoffpreise. Von der Rohstoffpreisentwicklung sind auch Pipelinewerte abhängig. Zugleich profitieren sie aber von ihrer hohen Kapitaldisziplin, guten Finanzen und recht attraktiven Bewertungen – und dem günstigen Langfristausblick für die Erdgasnachfrage.
Ein ereignisreiches Jahr
Bei all diesen Themen spielen wichtige Einzelwert- und Sektorrisiken eine Rolle – sei es die Sicherheit von Gentherapien im Pharmasektor, mögliche Förderkürzungen im Energiesektor oder einzelstaatliche Regulierungen bei Versorgern. Die konjunkturellen und politischen Risiken dürften im neuen Jahr überdurchschnittlich hoch sein. Es überrascht daher nicht, dass unser Gewinn- und Performanceausblick für die einzelnen Aktien wesentlich davon abhängt, wie relevant diese Risiken jeweils sind.
In der nächsten Woche werden wir uns in unseren Perspectives mit den Aussichten für die Sektoren Technologie, Industrie, Konsumgüter und Finanzen befassen.
Von Joseph V. Amato, President and Chief Investment Officer – Equities, Neuberger Berman