Drei Monate in Folge war die US-Inflation überraschend hoch. Als sie dann letzte Woche etwas unter den Erwartungen lag, waren die Anleger erleichtert. Amerikanische und europäische Aktien stiegen wieder auf ihre alten Allzeithochs, die Anleihenrenditen fielen kräftig, und zwei volle Zinssenkungen der Fed noch in diesem Jahr scheinen wieder eine ausgemachte Sache.
Am Tag zuvor hatte Präsident Biden neue Zölle auf Importe aus China angekündigt – auf Stahl, Aluminium, Halbleiter, Elektroautos und vieles mehr. Die Zölle auf Elektroautos steigen von 25% auf 100%. Schon jetzt hat Donald Trump seinen Anhängern versichert, dass er „jedes Auto aus diesen Fabriken mit 200% Zoll belegen“ werde.
Daraus lernen wir zweierlei:
Erstens könnten sich Biden und Trump vor den vermutlich sehr knapp ausgehenden US-Präsidentschaftswahlen in der Wirtschafts- und Handelspolitik näher sein, als es auf den ersten Blick scheint. Und zweitens könnten Anleger, die vor allem die monatlichen Inflationszahlen im Blick haben, die längerfristigen Auswirkungen von Populismus und weltpolitischen Risiken auf die Preise übersehen.
Sicherlich sprechen die Zahlen der letzten Woche für einen weiteren Rückgang der US-Inflation in den nächsten Monaten. Dennoch schließen wir nicht aus, dass strukturelle Entwicklungen immer wieder für böse Überraschungen sorgen – und damit für eine höhere und volatilere Inflation als in den letzten 20 Jahren.
Was sollten Anleger daher tun?
Innen- und Weltpolitik
Bald nach den US-Wahlen im November endet ein Jahr, in dem so viele Menschen zu den Urnen gerufen werden wie selten. Gewählt wurde und wird in Ländern, auf die etwa die Hälfte der erwachsenen Weltbevölkerung und knapp die Hälfte des Welt-BIP entfallen, von Indien und Pakistan bis zu Südafrika und Südkorea, Großbritannien und der EU.
In vielen Ländern wird die Politik populistischer, polarisierender und letztlich unberechenbarer. Und mehr noch: Oft führt die Weltlage zu innenpolitischem Streit, der wiederum Auswirkungen auf die Weltlage hat. Der Gaza-Krieg könnte den Wahlausgang in den USA beeinflussen, der wiederum große Auswirkungen auf die Ukraine und ihre europäischen Nachbarn hat.
Wir hielten es schon immer für schwierig, ein Portfolio auf ein bestimmtes Wahlergebnis auszurichten oder gegen konkrete (welt-)politische Ereignisse abzusichern. Dazu müsste man zunächst die Risiken korrekt identifizieren und dann gezielt passende Positionen eingehen.
Was lehrt uns beispielsweise die Geschichte, wenn wir ein Portfolio auf einen bestimmten Wahlausgang in den USA ausrichten wollen? Für Aktien schien es meist gut, wenn die Republikaner nicht nur den Präsidenten stellten, sondern auch beide Häuser des Kongresses kontrollierten – aber ein republikanischer Präsident mit einer demokratischen Kongressmehrheit war für die Märkte meist schlecht. Generell lagen Aktien in Wahljahren meist im Plus, wenn auch etwas unter dem Durchschnitt. Nach der Wahl, als die Unsicherheit nachließ, kam es oft zu starken Rallyes.
Und die Weltpolitik? Angenommen, Sie hätten den massiven Terrorangriff der Hamas auf Israel im Oktober letzten Jahres korrekt vorhergesehen. Wie hätten Sie Ihr Portfolio dann aufgestellt? Hätten Sie vielleicht Gold, US-Staatsanleihen und den Dollar übergewichtet? Und Aktien untergewichtet? Tatsächlich ist Gold 2023 bis zum Jahresende um 13% gestiegen, und die US-Anleihenrenditen sind um 100 Basispunkte gefallen. Aber das lag vor allem am starken Rückgang der Zinserwartungen und nicht an der Weltlage. Warum sonst wären Aktien um 10% gestiegen und der Dollar um 5% gefallen?
Es ist also nicht einfach, ein Portfolio auf (welt-)politische Risiken auszurichten. Wenn man sich auf die traditionellen parteipolitischen Positionen nicht mehr verlassen kann, hat das Zusammenspiel von Innen- und Weltpolitik mitunter überraschende Folgen. Die Republikaner mögen den Interventionismus und die Vorgaben einer Netto-Null-Klimapolitik nicht schätzen, aber ein 200-prozentiger Zoll auf chinesische Elektroautos dürfte (klimafreundlichen) US-Unternehmen sehr helfen – und dem Welthandel extrem schaden. Die Demokraten wiederum drängen auf mehr Geld für einen Bereich, den sie früher eher kurzhalten wollten, den sogenannten militärisch-industriellen Komplex. Sie wollen der Ukraine helfen.
Hohe Defizite, hohe Inflation
Anleger, die auf (welt-)politische Risiken reagieren wollen, sollten unserer Ansicht nach vor allem die zugrunde liegenden strukturellen wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen im Blick haben – statt zu versuchen, die Relevanz von Einzelereignissen, Parteiprogrammen und Positionen der Kandidaten einzuschätzen.
Generell sollte man unserer Ansicht nach auch in Zukunft mit einem hohen amerikanischen Haushaltsdefizit und einer volatilen und zuweilen überraschend hohen Inflation rechnen. Unter einer demokratischen Führung könnte der Klimaschutz wichtiger werden, unter einer republikanischen sind höhere Zölle zu erwarten. Aber Anleger müssen aufpassen, damit sie vor lauter Bäumen den Wald noch sehen.
Denkbar ist auch, dass Anleger angesichts der Meinungsverschiedenheiten zwischen Europa und den USA oder der Konflikte zwischen der Europäischen Union und den immer einflussreicheren Nationalisten und Populisten in einzelnen Mitgliedsstaaten übersehen, dass letztlich alle Beteiligten mehr Protektionismus wollen. Nicht die üblichen Verdächtigen, die den freien Welthandel ablehnen, fordern eine gezieltere europäische Industriepolitik mit strategischen Interventionen im gemeinsamen Markt, sondern zwei große Europäer: Mario Draghi und Enrico Letta.
Diversifikation ja, aber mit Blick auf strukturelle Entwicklungen
Anleger sollten sich deshalb genau überlegen, wie sie sich angesichts der unberechenbaren Weltlage, hoher Staatsausgaben, protektionistischer Regierungen und der daraus folgenden strukturellen Inflation positionieren.
Auf Unberechenbarkeit sollte man unserer Ansicht nach nicht einfach mit Schutz vor konkreten Schocks reagieren, sondern mit Diversifikation. Wirklich unkorrelierte Märkte und Strategien können helfen. Aber nach dem Renditeanstieg kann man risikoreichere Titel auch mit Anleihen wieder zu einem gewissen Grad absichern.
Anleihen könnten aber unter Druck geraten, wenn die Regierungen zu viel Geld ausgeben oder die Inflation steigt. Auch wenn die Teuerung 2024 weiter fällt, halten wir die Märkte angesichts der langfristig vermutlich höheren Inflation und der mangelnden Nachhaltigkeit der Staatsschulden für zu sorglos. Warum sonst ist die Zehnjahresrendite zuletzt stärker gefallen als die Zweijahresrendite? Solange sich das nicht ändert, halten wir kurz- bis mittelfristige Anleihen für interessanter.
Außerdem halten wir Sachwerte und Rohstoffe in diesem neuen Umfeld für interessant, wie wir in den letzten Monaten schon mehrfach geschrieben haben.
Der Goldpreis ist dieses Jahr schon um 16% gestiegen und der Ölpreis um 10%. Kupfer hat um 24% zugelegt, auf ein Zweijahreshoch. Gold ist ein klassisches Absicherungsinstrument für unsichere Zeiten, die beiden anderen Rohstoffe profitieren eher von einer starken Konjunktur, und mit Öl kann man sich sehr klassisch und günstig gegen weltpolitische Risiken absichern. Diese drei Rohstoffe zeigen sehr gut, was wir für sinnvoll halten: Bleiben Sie angesichts der vielen denkbaren kurzfristigen wirtschaftlichen und (welt-)politischen Entwicklungen diversifiziert – und bedenken Sie deren mögliche Auswirkungen auf die Inflation.
Von Erik Knutzen, Chief Investment Officer – Multi-Asset Class, Neuberger Berman