Angesichts der anhaltend negativen Auswirkungen des US-Handelskriegs auf die Konjunktur in der Eurozone herrscht Konsens unter den Marktteilnehmern, dass die EZB auf ihrer Sitzung am Donnerstag den Leitzins um 25 Basispunkte senken wird. Der Inflationsrückgang im Mai bestärkt die Währungshüter in ihrer Entscheidung.
Die EZB steht vor der Herausforderung, die Auswirkungen der US-Zollpolitik auf Europa erfolgreich zu analysieren. Dies gilt für die Exporte, die Investitionsausgaben und das Risiko von Vergeltungsmaßnahmen seitens der Eurozone. Der beste Frühindikator ist der Wechselkurs des Euro gegenüber dem US-Dollar. Dieser reicht jedoch nicht aus, um die Forward Guidance zu steuern: Die Unsicherheiten sind nach wie vor sehr groß, da es schwierig ist, innerhalb weniger Monate eine Einigung zu erzielen. Wir denken, dass die EZB einen Forward-Guidance-Ansatz vermeiden und an ihrer neuen datenabhängigen Analyse festhalten sollte.
Unserer Meinung nach wird die EZB ihre Inflationsprognosen am Donnerstag nach unten korrigieren. In der Tat haben sich die Inflationsraten für Energie und Güter vor über einem Jahr normalisiert und liegen unter dem Ziel der EZB von 2 Prozent. Nur die Inflationsrate im Dienstleistungssektor war problematisch. Diese spiegelt die inländische Teuerung wider und lag seit dem dritten Quartal 2023 konstant bei 4 Prozent. Das hat sich in diesem Jahr geändert: Sie ist im Jahresvergleich monatlich um 0,2 Prozent gesunken und lag im Mai bei 3,2 Prozent.
Indikatoren wie sinkende Energiepreise, die Verlagerung asiatischer Exporte in die Eurozone und ein stärkerer Euro deuten auf eine niedrigere Inflation in den kommenden Quartalen hin. Die jüngsten Daten zu den ausgehandelten Lohnerhöhungen in der Eurozone im ersten Quartal lagen bei 2,4 Prozent im Jahresvergleich – im vierten Quartal 2024 waren es noch 4,1 Prozent. Dieser Wert liegt unter der von Ökonomen ermittelten 3-Prozent-Schwelle, bei der die Inflationsrate nachhaltig unter dem 2-Prozent-Ziel der EZB bleibt. Ohne die politische Unsicherheit in den USA könnte man davon ausgehen, dass sich die Inflation normalisiert hat.
Die Marktteilnehmer beschäftigen sich derweil mit der Befürchtung, dass die US-Regierung die Kontrolle über ihre öffentlichen Ausgaben verliert und die Nachfrage nach langfristigen Anleihen aufgrund von regulatorischen Anpassungen bei Pensionsfonds zurückgeht. In der Eurozone dürfte dies in diesem Jahr nicht der Fall sein, da Frankreich und Italien ihre Defizite abbauen wollen und die deutsche Bundesregierung ihren neuen Kurs voraussichtlich erst ab dem nächsten Jahr umsetzen wird. Daher dürfte der Zollstreit ein zentrales Thema für den europäischen Anleihemarkt bleiben: Die 90-tägige Pause beseitigt nicht die Unsicherheit, die die Unternehmensinvestitionen sowie die Konsumausgaben der privaten Haushalte belastet und zu einem anhaltend schleppenden Wachstum führt.
Wir denken, dass 10-jährige Bundesanleihen im Jahr 2025 mit Renditen von 2 Prozent bis 2,5 Prozent fair bepreist sind. Der Einfluss der globalen Märkte wird aber wahrscheinlich anhalten. Dies könnte zu einer hohen Volatilität führen und die Rendite 10-jähriger Anleihen vorübergehend über 2,5 Prozent hieven.
Unserer Analyse zufolge nehmen die Abwärtsrisiken für das Wachstum deutlich zu – anders als in den Vereinigten Staaten. Darüber hinaus zeigt die Inflationsrate einen Abwärtstrend. Das könnte die Marktteilnehmer dazu veranlassen, Euro-Anleihen als sicheren Hafen im Vergleich zu anderen großen Anleihemärkten weltweit zu betrachten.
Von Patrick Barbe, Head of European Investment Grade Fixed Income bei Neuberger Berman