Während der Krieg in der Ukraine weiter wütet, stehen Europa und die Welt vor Herausforderungen bei der Ernährungssicherheit, die krisenhafte Ausmaße annehmen. Nachhaltigkeitskritiker fordern deshalb eine Abschwächung der politischen Maßnahmen, um die Ernährungssicherheit zu sichern. Im März änderte der amtierende französische Präsident Emmanuel Macron sein Narrativ im Agrarsektor und stellte die „landwirtschaftliche Unabhängigkeit“ wieder in den Mittelpunkt – er räumte der Produktivität Vorrang vor den Zielen einer nachhaltigen Landwirtschaft im Rahmen des Green Deal der EU ein, um in Europa die Post-Ukrainekrieg-Schwierigkeiten zu bewältigen. Macron stellte die „Farm to Fork“-Strategie der EU in Frage und erklärte, dass „Europa es sich nicht leisten kann, weniger zu produzieren“. Macrons Standpunkt spiegelt die deutlich negativen Auswirkungen wider, die der Preisanstieg bei Rohstoffen wie Soja, Weizen und Mais auf die Erschwinglichkeit und die Lebensmittelsicherheit gehabt hat. Und diese drohen die Dynamik zunichte zu machen, die Europa in den letzten zehn Jahren auf seinem Weg zur Nachhaltigkeit gewonnen hat. Aber ist das notwendig?
Haben wir ein Problem mit der Ernährungssicherheit?
Die Ukraine und Russland liefern zusammen 30 % der weltweiten Weizenexporte. Nach Angaben der Europäischen Kommission bedeutet der Ausfall der Getreideexporte aus der Ukraine, dass in der laufenden und der nächsten Saison bis zu 25 Millionen Tonnen durch andere Weizenarten ersetzt werden müssen. Da die meisten Weizenexporte schwerpunktmäßig in die zweite Jahreshälfte fallen, wird sich dieser Versorgungsengpass in den nächsten Jahren noch verschärfen, da die Agrarflächen und der Viehbestand der Ukraine durch die russischen Angriffe weiter vernichtet werden.
Neben Getreide importiert Europa auch Ölsaaten aus der Ukraine sowie Düngemittel und Erdgas (das zur Herstellung von Düngemitteln benötigt wird) aus Russland. Das wachsende Defizit hat zu einem starken Preisanstieg auf den Märkten geführt, der die weltweite Lebensmittelsicherheit beeinträchtigt. Die Landwirte spüren die Auswirkungen des Preisanstiegs bei den Betriebsmitteln, die Viehwirtschaft ist von den gestiegenen Preisen für Futtermittel betroffen, und die Verbraucher sehen sich damit konfrontiert, dass Lebensmittel weltweit unerschwinglich werden und manchmal sogar nicht mehr verfügbar sind. Die Lebensmittelinflation in Europa erreichte 5,6 % gegenüber Februar 2021.
Tatsächlich haben Europa und der Westen jedoch ein Preis- und kein Sicherheitsproblem. Obwohl die hohe Lebensmittelinflation in Verbindung mit der bereits spürbaren Energiekrise die Situation erschwert, verfügen die Industrieländer immer noch über genügend Nahrungsmittel, um die Bevölkerung zu ernähren. Wir müssen jedoch auch an die einkommensschwachen und benachteiligten Familien denken, die von den steigenden Preisen betroffen sein werden.
Welche Lösungen gibt es?
Es gibt mehrere Alternativen, um die Ernährungssicherheit und die Erschwinglichkeit von Lebensmitteln für die bedürftigen Bevölkerungsgruppen in Europa und der Welt zu verbessern. Die Europäische Kommission empfiehlt sozialpolitische Maßnahmen wie ermäßigte Mehrwertsteuersätze und den Einsatz des Europäischen Hilfsfonds für Bedürftige. Außerdem plant sie, Sonderfonds zur Unterstützung gefährdeter Landwirte und des Vieh- und Fischereisektors einzusetzen. Diese Maßnahmen sind jedoch befristet und können die Ernährungssicherheit mittel- bis langfristig nicht gewährleisten. Deshalb sehen wir in den meisten Staaten (wie Frankreich) den politischen Willen, die Selbstversorgung durch Produktionssteigerung und höhere Produktivität durch den Einsatz von Düngemitteln zu erhöhen.
Haben nachhaltige und grüne Methoden eine Berechtigung bei der Gewährleistung der Ernährungssicherheit?
Die Verbesserung der Lebensmittelsicherheit muss nicht auf Kosten der Nachhaltigkeit gehen. Eine der größten Debatten drehte sich um die Frage, ob die EU-Form-to-Fork-Ziele zur Reduzierung von Düngemitteln um 20 % und Pestiziden um 50 % bis 2030 aufgegeben werden sollten. Düngemittel werden jedoch aus Russland importiert, ebenso wie Erdgas - die Aufrechterhaltung dieses Reduktionsplans kann also dazu beitragen, unsere Unabhängigkeit zu erhöhen. Investitionen in Agrartechnologie und biologische Düngemittel können die Lücke bei der Steigerung der Produktion ohne schädliche Auswirkungen auf die Umwelt schließen. Biologische Düngemittel - hergestellt aus lebenden oder natürlich vorkommenden Materialien - werden seit langem als Alternative zu synthetischen Agrochemikalien angepriesen. Europa liegt bei der Einführung von Agrartechnologien hinter den USA zurück, und die GAP-Finanzierung kann helfen, die finanzielle Lücke zu schließen. Zusammen mit einer möglichen Einführung von GVO-Kulturen kann dies den Bedarf an Agrochemikalien erheblich senken.
Die Lebensmittelsicherheit in Europa und verschiedenen Ländern/Regionen der Welt kann auch durch eine größere Vielfalt auf unseren Tellern verbessert werden. Nach Angaben der FAO entfallen von den 6.000 Pflanzenarten, die zur Ernährung angebaut werden, nur neun auf zwei Drittel der gesamten Pflanzenproduktion. Ein Viertel der Nutztierrassen ist vom Aussterben bedroht, und nur eine Handvoll liefert den Großteil des Fleisches, der Milchprodukte und der Eier. Mehr als die Hälfte der Fischbestände ist vom Aussterben bedroht. Eine Umstrukturierung dieser Industrien und Anbauflächen zur Förderung der Produktion alternativer Nahrungspflanzen und Nutztiere kann unsere Abhängigkeit von einigen wenigen Pflanzen und Arten verringern. Eine pflanzliche Ernährung kann unsere Abhängigkeit von Fleisch verringern und damit unseren Bedarf an entsprechenden Industrien und Rohstoffen wie Soja senken. Alternative Proteine wie Fleisch aus dem Labor bieten ebenfalls vernünftige Lösungen.
Als Verbraucher sind unsere Entscheidungen nicht weniger bedeutend. Es ist unglaublich wichtig, dass wir wissen, welche Produkte wir konsumieren und woher sie kommen. Wir können die Nachfrage nach Vielfalt und Bioprodukten steigern und uns von Fleisch abwenden. Außerdem sollten wir uns bewusst für biofreundliche und nachhaltige Produkte entscheiden und solche boykottieren, die der Umwelt schaden. Jetzt ist es an der Zeit, dass alle mit anpacken, um sowohl die Natur zu erhalten als auch die Bezahlbarkeit für alle zu gewährleisten. Sicherheit und Nachhaltigkeit können zwei Seiten der gleichen Medaille sein.
Deepshikha Singh, Senior ESG Analyst, La Française Sustainable Investment Research