Öl: Das Drehbuch wird neu geschrieben
Wenn die Anleger geglaubt hatten, die Talfahrt der Ölpreise sei schon beendet, wurden sie eines Besseren belehrt. Die wachsende Kraftstoffnachfrage in den USA trifft auf ein ungebremstes globales Angebot, und die Preise sind erneut unter die Marke von USD 60 gesunken. Naheliegende Gründe sind unter anderem ein dringender Bedarf an Devisen (Russland/Venezuela), der Wunsch nach Rückerlangung der Kontrolle über den Markt (Saudi-Arabien) und eine Ausweitung des Angebots (Iran). Wir vermuten auch, dass Fortschritte in der Horizontalbohr- und Refracking-Technik gerade erst anfangen, die Ökonomie der Ölförderung in den USA gründlich zu verändern. Mit einem Überangebot in naher Zukunft ist zu rechnen.
Wozu wird das alles führen? Wir sehen drei mögliche Konsequenzen. Erstens dürfte der erneute Preisrückgang die Verbraucher endlich davon überzeugen, dass die Preise dauerhaft niedrig bleiben werden. Der Beitrag des Konsums zum Wirtschaftswachstum wird voraussichtlich steigen, besonders in den USA. Zweitens könnten die Währungen einiger Ölförderländer weiter an Wert verlieren und so den Druck auf die Notenbanken dieser Staaten erhöhen, ihre Geldpolitik zu straffen; ein Finanzschock infolge eines erneuten Ölpreisverfalls ist eine Möglichkeit, besonders im Fall eines baldigen Anstiegs der US-Zinsen. Drittens stehen die Preise im gesamten Rohstoffsektor unter Druck. Anleger, die auf dem Höhepunkt der Preisentwicklung eine strategische Allokation vorgenommen hatten, könnten entnervt aussteigen – wer sich von dem Sektor ferngehalten hatte, fände dann womöglich interessante Gelegenheiten vor.
Einkommen als Inflationstreiber
Man spürt, dass etwas nicht stimmt, wenn Konservative fordern, in Großbritannien müssten die Löhne und Gehälter steigen, und wenn ein unbeliebter Finanzminister einen neuen nationalen Mindestlohn verkündet. Die immer lauteren Forderungen, die Früchte der wirtschaftlichen Erholung müssten besser geteilt werden, zeigen unverkennbar Wirkung. Und dabei handelt es sich nicht um ein rein britisches Phänomen. In den USA drängen Politiker auf höhere Mindestlöhne, und die Parlamente der Bundesstaaten scheinen darauf ebenso wie die Unternehmen positiv zu reagieren. Ausgerechnet Walmart mit seinem legendären Ruf für strikte Kostenkontrolle geht voran und erhöht die Löhne von 500.000 seiner Mitarbeiter der untersten Gehaltsstufen.
Forderungen nach höheren Arbeitsentgelten sind nicht nur das Resultat politischer Prozesse. In Großbritannien und den USA hat ein rasanter Beschäftigungsanstieg die Arbeitslosenzahlen purzeln lassen. Viele Ökonomen glauben, dass wir einer inflationsstabilen Arbeitslosenquote sehr nahe sind oder diese schon erreicht haben. Die sogenannte NAIRU (Non-Accelerating Inflation Rate of Unemployment) ist die Quote, bei der ein Rückgang der Arbeitslosigkeit der Inflation Auftrieb zu geben beginnt. In Deutschland und Japan führt die angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt zu ähnlichen Entwicklungen.
Nichts von alldem ist den Geldpolitikern entgangen, und in den USA und Großbritannien sind die Notenbanken kurz davor, die Zinsen anzuheben. Wird eine Aktienhausse, die auf der üppigen Versorgung der Märkte mit Liquidität gebaut ist, wie ein Kartenhaus zusammenfallen, wenn die Notenbanken gezwungen sind die Zinsen zu erhöhen? Wir glauben das eher nicht, rechnen aber mit einer Zunahme der Marktschwankungen – was für Anleger mit Geldreserven sicher Gelegenheiten zum Zugreifen schaffen würde.
US-Unternehmen erwarten Lohnanstieg
Die Aktienmärkte der Industriestaaten sind denen der Entwicklungsländer in den letzten Jahren weit davongeeilt. Seit dem Debakel um die US-Schuldengrenze (August 2011) hat der S&P 500 seinen Stand ungefähr verdoppelt, während der MSCI EM nur um ca. 5 % gestiegen ist (auf USD-Basis). Faktoren, die gemeinhin zur Erklärung genannt werden, sind die Wachstumsflaute in den Schwellenländern, die schwachen Rohstoffpreise und ein dringender Bedarf an strukturellen Veränderungen. Vieles hiervon ließe sich genauso gut für die Industriestaaten anführen, doch das wird oft übersehen.
Auf die Dauer kann das nicht so bleiben: Die Abneigung gegen alles, was irgendwie mit Schwellenländern zusammenhängt, nimmt fieberhafte Züge an und erinnert an die hastige Abkehr von „Old Economy“-Aktien im zweiten Halbjahr 1999 und Anfang 2000. Wir werden uns wohl vorerst noch nicht aus dem Fenster lehnen, aber wenn auf die liquiditätsgetriebene Hausse ein Abschwung an den Börsen folgt, könnten sich die interessantesten Kaufgelegenheiten in den Schwellenländern eröffnen – und in Form jener ungeliebten westlichen Unternehmen, die dort ihre Geschäfte machen.