"Für internationale Anleger, aus deren Sicht Europa einem Seniorenheim mit hohen Steuern gleicht, verlief die erste Jahreshälfte 2017 überraschend. An vielen Börsen ging es in den sechs Monaten kräftig aufwärts, doch besonders erfreuliche Beiträge kamen aus Europa, wo der MSCI Europe Index auf Dollarbasis um 13,1% stieg. Natürlich hat Europa nicht all seine langjährigen Probleme wie Wachstumsschwäche, alternde Bevölkerungen, Überregulierung, hohe Steuern und ein kompliziertes Arbeitsrecht nun plötzlich gelöst.
Stattdessen haben die europäischen Aktienmärkte auf sinkende Risiken durch populistische Politiker reagiert. Diese hatten zu Beginn des Jahres noch als Gefahr für die Zukunft des Euros gegolten, konnten jedoch bei den Wahlen in Österreich, den Niederlanden und zuletzt Frankreich zurückgedrängt werden. Zugleich hat sich das politische Umfeld in zwei anderen Industriestaaten deutlich verschlechtert: In den USA gelingt es der Trump-Regierung bisher nicht recht, ihre Vorstellungen in der Steuer-, Gesundheits- und Infrastrukturpolitik umzusetzen. Und auch in Grossbritannien haben sich die Aussichten eingetrübt. Grund dafür ist der Streit über die konkrete Ausgestaltung des Brexit.
Zucker für die Wähler
In diesem neuen Kontext erscheint Europa als reicher, entwickelter Wirtschaftsraum mit Anlagemöglichkeiten und Problemen, die sich nicht wesentlich von denen anderswo unterscheiden. Warum sollten europäische Aktien da mit einem Abschlag bewertet sein? Innerhalb von nur wenigen Monaten hat sich das Bild, das sich die Welt von Frankreich macht, grundlegend verändert. Verband man das Land noch vor kurzem mit unüberwindlichen Problemen und einer ermatteten, in Verruf geratenen politischen Klasse, so hat mit Emmanuel Macron ein junger Reformer aus der politischen Mitte die Macht übernommen, ausgestattet mit einem starken Mandat der Wähler für Veränderungen. Die Verwirklichung von Reformen wird in Frankreich gewiss keine leichte Aufgabe sein, doch je grösser das Chaos in Grossbritannien, desto einfacher wird es für Macron, seine Pläne in die Tat umzusetzen – die Alternative wirkt zurzeit ausgesprochen unattraktiv. Enttäuschte Wähler jenseits des Kanals wünschen sich inzwischen, sie hätten ihren eigenen Macron – ein grotesker Lauf der Dinge, den sich niemand hätte vorstellen können.
Weitere positive wirtschaftliche Impulse dürften aus Deutschland kommen. Der Fortbestand des Euros in seiner jetzigen Form hat für die deutsche Wirtschaft immense Vorteile, auch wenn das selten laut zugegeben wird. Trotz der Aufwertung gegenüber dem US-Dollar im Laufe des vergangenen Jahres ist der Euro aus deutscher Sicht eine sehr viel wettbewerbsfähigere Exportwährung, als man sie ohne Währungsunion hätte. Berlin wird deshalb Wege finden, die Wirtschaftsreformen in Frankreich und möglicherweise auch in Italien zu unterstützen. Wahrscheinlich werden sich beide Länder jedoch bis nach den Bundestagswahlen im September gedulden müssen – erst dann dürften ihnen entsprechende „Bonbons“ angeboten werden.
Klare Signale für die Börsen?
Das Bild Europas hat sich in den letzten Monaten stark gewandelt. Ich weise ja schon seit langem darauf hin, dass europäische Spitzenunternehmen ihre Zeit nicht damit verbringen, Zeitung zu lesen und Trübsal zu blasen. Diese Firmen konzentrieren sich seit vielen Jahren auf das eigene Geschäft und nutzen die Chancen, die sich ihnen bieten. Manche Anleger haben das schon lange vor den Wahlen in Frankreich erkannt. Nach dem kräftigen Anstieg der Aktienmärkte in den letzten Monaten stellt sich jedoch die Frage: Ist die Party nun bald vorbei?
Die Signale sind uneinheitlich. In den USA klagt die Autobranche über einen Rückgang der Neuwagenverkäufe, andererseits wird ein anhaltend robustes Beschäftigungswachstum gemeldet. In Europa kommen unterdessen mehrere bedeutende Volkswirtschaften wie Frankreich und Italien nach jahrelanger Durststrecke gerade erst wieder zu Kräften. In der Bauwirtschaft dauert die Erholung von sehr niedrigem Ausgangsniveau noch an. Für eine Belebung der Konjunktur und einen Aufschwung am Arbeitsmarkt besteht noch erhebliches Potenzial. Die deutsche Wirtschaft zeigt sich in glänzender Verfassung, und die Stimmungsindikatoren klettern weiter. Arbeitsmarktreformen und/oder Infrastrukturprogramme dürften vor diesem Hintergrund in erster Linie Unternehmen der Baubranche oder anderen lokalen Dienstleistern in arbeitsintensiven Bereichen zugutekommen.
In Frankreich hat der Baukonzern Eiffage gute Aussichten, von neuen staatlichen Aufträgen zu profitieren. Das französische Autobahnnetz soll ausgebaut werden, und überdies sind Massnahmen geplant, die französischen Städte (vor allem Paris) verkehrstechnisch entlasten sollen. Potenzielle Aufträge winken auch im Zusammenhang mit den Olympischen Sommerspielen 2024, für die sich Paris und Los Angeles beworben haben – die Entscheidung für eine der beiden Städte dürfte schon bald fallen. In der Catering-Branche würde Elior von einer Vereinfachung des Arbeitsrechts in Frankreich profitieren – bekanntlich ist das französische Arbeitsgesetzbuch dicker als die Bibel. Die stärkere Nutzung flexibler Arbeitsverträge würde bei Wachstum und Unternehmensgewinnen für neuen Schub sorgen.
Positiv für europäische Aktien stimmte auch der Verlauf der Berichtssaison für das erste Quartal. Viele Unternehmen in Europa meldeten für die drei Monate ein robustes Gewinnwachstum – laut einigen Erhebungen waren die Zuwächse kräftiger als in den USA, wo der stärkere Dollar einen Bremseffekt hatte.
Risiko der „Normalisierung“
Eine Frage wirft jedoch Schatten auf die europäischen Börsen. Wie wird das Ende der quantitativen Lockerung genau ablaufen und wie wird es sich auf die Bewertungen an den Kapitalmärkten auswirken? In der letzten Juniwoche brachen die Kurse an den Anleihe- und Aktienmärkten deutlich ein. Vorausgegangen waren Äußerungen von EZB-Chef Mario Draghi, die als Signal für ein baldiges Ende der quantitativen Lockerung (Anleihekäufe der Notenbank) gewertet wurden. Die Rendite 10-jähriger deutscher Bundesanleihen schnellte binnen weniger Tage von 0,25% auf 0,47% empor. Erklärungen, die von der EZB nachgeschoben wurden, schienen auf das genaue Gegenteil hinauszulaufen. Die Notenbanken suchen weltweit nach Wegen, wie die Zinsen „normalisiert“ werden können, während die Konjunktur zwar anzieht, Kerninflation und Reallohnwachstum jedoch auf niedrigem Niveau verharren.
Zweifellos war die amerikanische Federal Reserve die erste Notenbank, die ihren Leitzins erhöht hat. Die EZB muss sich wesentlich vorsichtiger verhalten, will sie den fragilen Aufschwung nicht gefährden. Eine Kombination von Euro-Aufwertung und höheren Kreditkosten werden manche europäischen Volkswirtschaften sicher vor erhebliche Probleme stellen – und der Euro notiert gegenüber dem US-Dollar schon jetzt auf dem höchsten Stand seit einem Jahr. Höhere Zinsen dürften die verfügbaren Einkommen schmälern.
Ein realistischeres Szenario wäre deshalb, dass die EZB bei der „Normalisierung“ ihrer Geldpolitik und der Anhebung der Zinsen in der Eurozone sehr langsam vorgeht. Für europäische Aktien bedeutet dies ein recht angenehmes Umfeld. Hinzu kommt, dass Draghi mit den Problemen in Italien, wo ernsthafte Reformen erst noch in Angriff genommen werden müssen, bestens vertraut ist. Das Land mag in den letzten Wochen etwas aus dem Blickfeld geraten sein, sieht man von der Rettung zweier Geldinstitute ab, doch mit seinen hohen Schulden kann sich Italien höhere Zinsen kaum leisten. Mario Draghi will sicher nicht als derjenige in Erinnerung bleiben, der eine der größten Volkswirtschaften Europas zu Fall brachte."