Die Krise
Die Krise in der Türkei ist im Wesentlichen politischer Natur. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan genießt starken Rückhalt bei seinen Bürgern. Die meisten Türken glauben, die USA seien für die derzeitige Situation des Landes verantwortlich. In diese Richtung gingen auch Erdogans jüngste Äußerungen an die Adresse der internationalen Gemeinschaft. In einem am Freitag veröffentlichten Gastbeitrag für die New York Times erwähnte das türkische Staatsoberhaupt mit keinem Wort die wirtschaftlichen Fakten. Stattdessen beschränkte sich Erdogan auf eine Litanei von Klagen über die Politik der USA. Der neue Finanzminister der Türkei ist der Schwiegersohn des Präsidenten. Das muss nicht unbedingt bedeuten, dass ihm die Qualifikation für das Amt fehlt – Zweifel an seiner Unabhängigkeit sind jedoch berechtigt. Die Forderung nach einer Freilassung des amerikanischen Geistlichen Andrew Brunson, der im Oktober 2016 nach dem vereitelten Putschversuch festgenommen worden war, ist zweifellos ein Hindernis für gute Beziehungen zwischen den beiden Ländern, doch das eigentliche Problem sind die ernsten wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in denen die Türkei steckt.
Starke Abhängigkeit von externen Faktoren
Das Hauptproblem der Türkei ist ihre Abhängigkeit vom Ausland. Laut JP Morgan beläuft sich die Verschuldung des privaten Sektors (ohne Finanzinstitute) auf 85% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – USD 722,5 Milliarden verglichen mit einem BIP von USD 850 Milliarden (BIP der Türkei mit Stand von 2017). Davon sind 70% in ausländischer Währung denominiert. Bezieht man die Finanzinstitute in die Betrachtung ein, steigen die Schulden der türkischen Privatwirtschaft auf 170% des BIP (USD 1,445 Billionen), wie aus Zahlen der OECD hervorgeht. (letzte verfügbare Daten von 2016)
Genau wie die Banken erzielen die meisten Schuldner nur geringe oder gar keine Deviseneinnahmen, was zu einem deutlichen Missverhältnis zwischen benötigten und verfügbaren Devisen führt. Nach der schweren Wirtschaftskrise in der Türkei von 2001 sind die Banken des Landes heute überwiegend gut kapitalisiert, und die kleine Zahl von Unternehmen, deren Anleihen zu unserem Anlageuniversum gehören, weisen ausreichende Bonitätskennzahlen auf. Ein anhaltender Kursverfall der Lira könnte jedoch verheerende Folgen für das Land haben. Diese dürften sich besonders in der nächsten Berichtsperiode zeigen, wenn die Lira-Schwäche durch Umrechnungseffekte deutliche Spuren in den Unternehmensabschlüssen hinterlassen wird.
Angesichts der rasant steigenden Kosten für die Bedienung der Auslandsschulden wird auch die Refinanzierung anstehender Fälligkeiten zum erheblichen Problem. In den nächsten zwölf Monaten erreichen im privaten Sektor Schulden in Höhe von schätzungsweise USD 70 Milliarden ihren Fälligkeitstermin; im staatlichen Sektor sind es rund USD 10 Milliarden. Die Bruttowährungsreserven der Türkei belaufen sich jedoch nur auf USD 81 Milliarden.
Ansteckungseffekte hat der Markt bereits eingepreist (zum Teil)
- Währung — Die Lira-Schwäche hat auch Währungen anderer Länder in vergleichbarer Situation unter Druck gebracht: Südafrika, Indien, Argentinien und Indonesien sind nur einige der Staaten, die ähnlich hohe Zahlungsbilanzdefizite aufweisen.
- Außenhandel — Russland, Polen und Rumänien würden einen Rückgang der Kaufkraft der Türkei am stärksten zu spüren bekommen. Die Handelsbeziehungen mit Russland konzentrieren sich allerdings auf den Energiesektor und sind von daher robuster.
- Banken — Spanien, Frankreich und Italien tragen die größten Risiken. Die spanische Großbank BBVA ist mit 50% an Garanti Bank beteiligt, dem drittgrößten Geldinstitut der Türkei (nach der Bilanzsumme).
Könnten wir es mit systemischen Risiken zu tun haben?
- Auf kurze Sicht: Nein. Eine Schwäche des Bankensektors wird auf Grund der Fälligkeitstermine von Problemkrediten frühestens in 90 Tagen sichtbar werden. Wie es scheint, haben nur Argentinien, die Türkei und die Ukraine gemessen an ihren eigenen Devisenreserven einen ungewöhnlich hohen Bedarf an ausländischem Kapital. Die meisten Länder verfügen jedoch über Möglichkeiten, auf Volatilität oder „Schocks“ angemessen zu reagieren. Argentinien unterzeichnete ein Hilfsprogramm mit dem IWF und anderen Geldgebern im Volumen von USD 50 Milliarden, hob die Zinsen an und zeigt allgemein eine proaktive Haltung. China kann als Reaktion auf Handelszölle „die Geldschleusen öffnen“, wie es dies in letzter Zeit bereits getan hat, und die Versorgung seiner Märkte mit Liquidität wieder verstärken. Im Unterschied zur Türkei (oder zu Südafrika) besteht in den meisten Staaten der politische Wille, die eigene Wirtschaft aktiv zu steuern. Insgesamt bewegen sich die Außenfinanzierungslücken in den Schwellenländern auf niedrigem Niveau. So war in den letzten fünf Jahren bei den ausländischen Direktinvestitionen ein positiver Trend zu verzeichnen, während die Auslandsschulden gesunken sind.
- Auf mittlere Sicht: Wahrscheinlichkeit = 30%. Sollte die Türkei an ihrem derzeitigen Kurs festhalten und auf wirksame Schritte weiter verzichten, könnte die Währungsschwäche andauern, die notleidenden Kredite würden zweifellos steigen und die Banken wären auf Hilfe angewiesen. Systemische Risiken im türkischen Bankensektor hätten auch Folgen für Kreditinstitute in anderen Ländern. Eine solche Entwicklung hätte Auswirkungen auf die Finanzmärkte weit über die Grenzen der Türkei hinaus.
Was muss die Türkei tun?
Wir glauben, dass die Türkei das Ruder nur herumreißen kann, wenn sie mehrere Maßnahmen gleichzeitig ergreift: i) Erhöhung der Zinsen, um die galoppierende Inflation zu stoppen, ii) Einleitung von Reformen zur Verringerung der Schuldenlast im privaten Sektor, iii) Rettungspaket für den Bankensektor zur Tilgung kurzfristiger Verbindlichkeiten und zur Kapitalisierung der Geldinstitute und iv) Freilassung von Pastor Brunson (ein Schritt, der für die wirtschaftliche Situation des Landes jedoch von geringerer Bedeutung wäre). Finanzminister Albayrak wird sich am 16. August in einer Rede an die Anleger wenden. Wir erwarten nicht, dass er auch nur eine dieser Maßnahmen verkünden wird.
Fazit
Unsere Hauptsorge ist, dass die Krise in der Türkei über die größeren Probleme hinwegtäuscht, mit denen wir weltweit konfrontiert sind. Ein Jahrzehnt der lockeren Geldpolitik/quantitativen Lockerung hat die Märkte mit billigem ausländischen Geld geflutet, und viele Länder und Unternehmen können diese Schulden schlicht nicht zurückzahlen, wenn ihre Währungen schwach sind.
Wir halten schon seit einigen Monaten keine Positionen mehr in der Türkei. Die derzeitige Situation in dem Land ist aus unserer Sicht politisch bedingt. Unsere Erfahrung lehrt uns, dass politische Umstände schwer zu analysieren sind – und dass es noch schwerer ist, an politischen Börsen erfolgreich zu investieren.