Der Ausgang der US-Wahl ist noch nicht entschieden, aber die Märkte haben bereits ihre Schlüsse gezogen, wie sich die Dinge entwickeln werden. Mit dem Eingang der ersten Wahlergebnisse hat die Kursentwicklung bestätigt, dass sich die Investoren bei der Bewertung auf zwei Themenkomplexe konzentrieren: die allgemeine finanzpolitische Ausrichtung der neuen Regierung und die darüber hinausgehenden spezifischen Regierungsprogramme der beiden Präsidentschaftskandidaten.
Die wirtschaftliche Kulisse dieser Wahl besteht aus einer unvollständigen globalen Erholung, die nach wie vor durch die anhaltende Verbreitung von Corona in vielen großen Volkswirtschaften sowie durch die schnell schwindenden fiskalischen Unterstützungsmaßnahmen bedroht ist. Da die Zinssätze und Anleiherenditen bereits sehr niedrig sind, sehen Investoren nur einen begrenzten Spielraum für die Zentralbanken, das Wachstum wieder anzukurbeln, wenn die globale Erholung an Schwung verliert. An den Finanzmärkten bildet sich der Konsens, dass die Fiskalpolitik jetzt mehr Verantwortung für die Unterstützung des globalen Wachstums übernehmen muss, als sie es in den letzten zehn Jahren getan hat. Deshalb sind die finanzpolitischen Vorschläge von Donald Trump und Joe Biden bei dieser Wahl so bedeutend.
Keine „Bonanza“
Natürlich werden die politischen Präferenzen des Präsidenten nicht der einzige Faktor sein, der das finanzpolitische Programm der neuen Regierung bestimmt. Auch die Senatszusammensetzung wird einen großen Einfluss auf den Umfang und die Art des Maßnahmenpakets haben, das letztlich geschnürt wird. Durch die geringen Aussichten auf einen von den Demokraten geführten Senat wird das Szenario einer „blauen Welle“, das viele erwartet hatten, immer unwahrscheinlicher. Während das Ergebnis für den Senat noch nicht endgültig feststeht und es möglicherweise erst im Januar soweit sein wird, ist Bidens fiskalischer Geldsegen jetzt nur noch Spekulation, nachdem sie seit dem Wahlabend heiß diskutiert wurde. Ein Rebound der risikoreichen Assets vor dem Hintergrund schwindender Aussichten auf ein reflationäres Konjunkturprogramm in den USA mag unvereinbar erscheinen. Dennoch haben die Sektoren, die die Hauptprofiteure von Bidens Konjunkturplänen gewesen wären, nach den Wahlen einen Dämpfer erlitten, und die US-Anleiherenditen bewegen sich auf einem niedrigeren Niveau, was das erwartete Ende des Konjunkturprogramms widerspiegelt. Bei den wichtigsten US-Aktienindizes wurden diese Auswirkungen jedoch durch die Erholung der Gesundheits- und Technologieaktien und anderer Sektoren in den Schatten gestellt, die zu gerne annahmen, dass Bidens Pläne für höhere Unternehmenssteuern und regulatorische Eingriffe durch einen republikanischen Senat verhindert werden.
Im Großen und Ganzen deutet die Marktreaktion auf die Wahlnachrichten darauf hin, dass die Finanzmärkte eher eine eingeschränkte Biden-Präsidentschaft bevorzugen würden, als eine, die das Mandat hat, die angekündigten Maßnahmen voll und ganz umzusetzen. Dies ist keine ungewöhnliche Reaktion. Tatsächlich zeigt uns die Geschichte, dass geteilte Mehrheiten im Kongress in der Regel eine bessere Aktienmarktperformance erzielt haben als geeinte, und die von den Demokraten geführten Regierungen die besten waren. In diesem Fall würden wir erwarten, dass das Programm einer Biden-Regierung durch den Senat abgeschwächt wird. Die Prioritäten würden hin zu einer Entlastung des Corona-Fiskalhaushalts sowie einer Erhöhung der Infrastrukturausgaben verschoben werden und weg von der Umverteilungspolitik und regulatorischen Eingriffen, die einige der Börsengiganten erschüttern würden.
Ängste verblassen
Die Aktienmärkte erholen sich in der Regel nach großen erwarteten Risikoereignissen wie den US-Wahlen. Da vieles darauf hindeutet, dass sich die meisten Investoren im Vorfeld eher defensiv positioniert haben, scheint auch hier eine typische Erholung stattzufinden. Die Investoren greifen vermehrt auf Kassenbestände zurück und lösen Absicherungen von vor den Wahlen auf. Die Aussicht auf eine von Biden geführte Regierung, die die US-Regierung wieder zu orthodoxeren und multilateralen Ansätzen in den internationalen Beziehungen zurückführt und auch die Handelsbeziehungen mit Europa und Japan verbessert, stimmt Investoren zuversichtlich.
Kein Game-Changer
Wenn man also davon ausgeht, dass das Ergebnis mit einem von Biden geführten Weißen Haus und einem republikanischen Senat immer wahrscheinlicher wird, dann haben wir ein Wahlergebnis, das bei weitem keine so großen Veränderungen mit sich bringt, wie ein demokratischer „Clean Sweep“. Dies ist eine Kombination, die zweifellos oft zu einem gesetzgeberischen Stillstand führen wird und die Hoffnungen auf einen schnellen Wechsel zu einer fiskalischen Ankurbelung der Konjunktur zunichtemacht. Dementsprechend hat der Markt bisher die Erwartungen an das Szenario einer „blauen Welle“ bei einigen Assets negativ und die Erleichterung bei anderen Assets positiv eingepreist.
Auch wenn es durchaus möglich ist, dass es bei dieser Wahl länger dauert als sonst, bis eine formelle Lösung gefunden wird, werden die Finanzmärkte dies wie immer wahrscheinlichkeitstheoretisch angehen. Sie werden nicht darauf warten, dass jedes Detail formell überprüft wird. Das Wahlergebnis wird bald eingepreist sein, auch wenn das Ergebnis noch nicht offiziell feststeht. Die Aufmerksamkeit wird sich dann wieder auf die Wirtschaft und den anhaltenden Einfluss von Corona auf die ökonomische Dynamik verlagern. Aufgrund des jüngsten Anstiegs der Coronafälle in Europa, haben Ökonomen die Prognosen für das Wachstum im vierten Quartal gesenkt. Da das Virus auch in den USA an Dynamik gewinnt, könnten die damit verbundenen kurzfristigen wirtschaftlichen Risiken mehr Aufmerksamkeit bei den Investoren finden, sobald die Wahlnachrichten abflauen.
Paul O‘Connor, Head of Multi-Asset bei Janus Henderson Investors