Die Konservativen haben zwar das schlechteste Ergebnis von unter 20 Prozent, auf das die Umfragen kurzzeitig hingedeutet hatten, vermieden, aber dennoch ein Nachkriegstief bei den Wählerstimmen verzeichnet. Die CDU-Parteiführung hängt noch am seidenen Faden und klammert sich an die schwache Hoffnung einer sogenannten Jamaika-Koalition unter ihrer Führung. Doch weder die großen Teile der eigenen konservativen Partei noch die breite Bevölkerung wünschen dies. Stattdessen wird sich die CDU in den nächsten Jahren in der Opposition neu aufstellen müssen. Die Sozialdemokraten unter ihrem Vorsitzenden Scholz – der in den Augen vieler Menschen der Bundeskanzlerin viel ähnlicher ist als ihr weniger bekannter Parteinachfolger Laschet – werden aller Voraussicht nach der führende Partner einer neuen Koalitionsregierung sein. Die neuen Koalitionspartner werden vermutlich die Grünen und die Liberalen sein.
Erstere haben in den Wahlen so schwach und letztere so stark abgeschnitten, dass sie in Bezug auf die Verhandlungsmacht mehr oder weniger gleichauf liegen. Ihre politischen Positionen unterscheiden sich am stärksten. Das geht so weit, dass die Vorsitzenden der Grünen und der Liberalen bereits Gespräche aufgenommen haben, um herauszufinden, ob und wie sie die Differenzen überbrücken können. Das sollte den extremeren politischen Zielen der Grünen, die negative Auswirkungen auf den Aktienmarkt haben könnten, die Schärfe nehmen, z. B. in Bezug auf die Besteuerung oder sehr ehrgeizige grüne Umstiegsziele, die einige Sektoren der deutschen Industrie hätten überlasten können. Die Koalitionsverhandlungen könnten sich bis zum Jahresende hinziehen, sollten aber letztlich machbar sein. Es ist unwahrscheinlich, dass es zu marktbewegenden Ergebnissen kommt, wie z. B. einer starken Ausweitung der Haushaltsdefizite, die einen erheblichen idiosynkratischen Anstieg der Renditen für Bundesanleihen und eine Aktienmarktkorrektur verursachen könnte.
Die Grundlagen der wahrscheinlichen neuen Regierung sind immer noch sehr stark im Konservatismus verwurzelt – Erhalt der Haushaltsdisziplin, Erhalt der Exportstärke Deutschlands, Erhalt der annähernden Vollbeschäftigung, Erhalt des Sozialstaats, Erhalt der Umwelt. Der Erfolg der SPD war kein plötzlicher Linksruck in der politischen Landschaft Deutschlands, sondern meines Erachtens wirklich nur Ausdruck des Wunsches der Öffentlichkeit, dass die Regierung in Form des beliebten Finanzministers und Vizekanzlers Scholz in sicherere Hände kommt. Veränderungen werden nur am Rande stattfinden.
In jüngster Zeit ist die Kritik an den 16 Jahren der Amtszeit von Bundeskanzlerin Merkel deutlich lauter geworden. Das Ausbleiben von Strukturreformen bei Steuern und Bürokratie, das Bremsen von Innovation und Unternehmertum, die fehlenden Verbesserungen im Bildungs- und Gesundheitswesen. Frau Merkel begann ihre Amtszeit mit dem Versprechen großer Veränderungen und eines frischen Windes, wurde dann aber von einer europäischen Krise zur nächsten gestoppt – Banken, Staatsanleihen, Euro, Atomausstieg, Flüchtlinge, Brexit, Handelskrieg, Corona usw. Mit etwas Glück könnte eine neue Regierung ein einfacheres Umfeld vorfinden und somit eher in der Lage sein, einige dringend benötigte Strukturreformen für Deutschland durchzusetzen.
Letztendlich dürfte dies überwiegend positiv und hilfreich für den Aktienmarkt sein, auch wenn einige inländische Anleger mit einer höheren persönlichen Besteuerung rechnen müssen.
Robert Schramm-Fuchs, Portfolio Manager European Equities bei Janus Henderson Investors