Die EZB wird sich dem (wachsenden) Kreis der Zentralbanken, die 2022 die Zinsen anheben, anschließen. Auf ihrer gestrigen Sitzung hat sich die EZB verpflichtet, die Zinsen zum ersten Mal seit 2011 anzuheben. Dabei hat sie die eindeutige Einschätzung geäußert, dass im vierten Quartal dieses Jahres das Ende der Negativzinsen in der Eurozone erreicht sein wird.
Anleger hatten damit gerechnet, dass auf dieser Sitzung das Ende des Programms zum Ankauf von Vermögenswerten bekannt gegeben würde, und es gab eine erhöhte Erwartungshaltung, dass die EZB für Juli eine Zinserhöhung von 25 oder 50 Basispunkten ankündigen würde. Es bestand auch eine gewisse Hoffnung auf die Bekanntgabe eines Instruments, mit dem das Risiko einer Spread-Ausweitung zwischen Anleiherenditen der Peripherieländer und deutschen Staatsanleiherenditen eingedämmt werden sollte; das von der EZB sogenannte Fragmentierungsrisiko.
Die Erwartungen der Anleger in Bezug auf die Ankäufe von Vermögenswerten und die Zinssätze wurden mehr als erfüllt, denn die EZB betonte nicht nur die Optionalität, sondern gab auch recht klare Hinweise nicht nur auf den Umfang der Zinserhöhung im Juli (25 Basispunkte), sondern auch darauf, dass der Markt im September mit mindestens 25 Basispunkten (mit dem Risiko von mehr) und danach mit weiteren Erhöhungen rechnen müsse. Während die EZB bei den Zinserwartungen übertrieben haben mag, enttäuschte sie bei der Erläuterung ihres Ansatzes zur Bewältigung der Fragmentierungsrisiken. Es wurden keine neuen Instrumente angekündigt. Die Zusage der EZB, die Fragmentierung zu begrenzen, bleibt ein Wunschtraum, da sie sich derzeit darauf beschränkt, die Reinvestitionen des PEPP-Programms flexibel zu allokieren. Bemerkenswert war, dass die EZB erklärte, sie könne das PEPP bei Bedarf wieder einführen. Allerdings ist dieses Risiko sicherlich die empfindliche Schwachstelle in der von der EZB vorgeschlagenen Straffungsstrategie.
Weitere bemerkenswerte Aspekte der Sitzung waren die Veröffentlichung einer über dem Ziel liegenden Inflationsprognose für 2024, was eine Zinserhöhung rechtfertigt. Interessant und für die Glaubwürdigkeit der aktuellen Zinsvorgaben der EZB potenziell am bedeutsamsten ist die Tatsache, dass die EZB für die kommenden Jahre ein recht robustes, wenn auch niedriges Wachstum für die EU prognostiziert. In Anbetracht der eindeutigen Risiken, die sich aus der prekären Energieabhängigkeit der EU von Russland ergeben, gibt es mehr als nur einen Grund, hier skeptisch zu sein.
Bemerkenswert war auch die Aussage, dass die EZB nicht über den neutralen Zinssatz für die Eurozone gesprochen hat. In Anbetracht der Bedeutung, die der Bestimmung des Punktes (zumindest theoretisch) zukommt, an dem die Zinssätze von akkommodierend zu restriktiv übergehen, und angesichts der Wahrscheinlichkeit, dass dieser Wert für Europa niedriger ist als in vielen anderen Regionen der Welt, ist die mangelnde Aufmerksamkeit, die diesem Punkt zuteilwird, trotz der Hinweise auf mehrere Zinserhöhungen, gelinde gesagt merkwürdig.
Aus Sicht der Märkte war die Sitzung eindeutig hawkish. Die hawkishe Haltung steht jedoch auf einem schwachen Fundament. Der fehlende klare Ansatz zum Umgang mit dem Fragmentierungsrisiko birgt erhebliche Risiken für die Finanzstabilität, wenn nicht zuverlässig gehandelt wird. Die überraschend optimistische Einschätzung des Wachstums deutet darauf hin, dass sich die abgegebenen Zinsempfehlungen für die zweite Jahreshälfte als zu optimistisch erweisen könnten. Die Renditen in der gesamten Eurozone sind erheblich höher, und – was für die EZB vielleicht noch besorgniserregender ist – die Spreads der Peripherieländer sind gestiegen. Die EZB strafft ihre Geldpolitik aus Gründen, die, wie sie selbst einräumt, in erster Linie auf nicht-nachfragebezogene Faktoren zurückzuführen sind, nämlich auf ein verlangsamtes Wirtschaftswachstum. Der Einfluss des Jahres 2011 hat sich zwar abgeschwächt, ist aber noch nicht verschwunden.
Andrew Mulliner, Head of Global Aggregate bei Janus Henderson Investors