- Trotz spätem Zinserhöhungszyklus und Vorrang der Zinsintegrität im Euroraum sollte der Zinshöchststand niedriger ausfallen als in anderen Ländern
- Rezessionsrisiko in Europa ist etwas gesunken: Euro-Investment-Grade Spreads preisen dieses Risiko im Vergleich zu anderen Märkten stärker ein
- Anhaltende quantitative Straffung kann Angebots- und Nachfrageentwicklung beeinflussen; Titelauswahl wird 2023 mit zunehmender Bandbreite der Emittenten entscheidend sein
„Längerfristig höheres“ Zinsumfeld
Während andere Zentralbanken einen baldigen Höchststand der Zinssätze signalisieren, hat die Europäische Zentralbank (EZB) ein „längerfristig höheres“ Zinsumfeld angedeutet – verständlich, wenn man bedenkt, dass sie ihren Zinserhöhungszyklus erst später begonnen hat. Im Gegensatz zu den Zentralbanken Großbritanniens und der USA war die EZB auch bei dem Umfang der Zinserhöhungen eher vorsichtig, was ihre akkommodierende Haltung und ihr Interesse an der Aufrechterhaltung der finanziellen Integrität (in der EZB-Sprache: Vermeidung einer „Fragmentierung“ der Märkte) in der Eurozone sowie an der Marktstabilität widerspiegelt. Die niedrigeren Energiepreise beeinflussen die Gesamtinflation, die sich in der Eurozone im Januar stärker abschwächte als erwartet. Dies bedeutet, dass in Europa im Vergleich zu anderen großen Industrieländern wie den USA ein niedrigerer Endsatz – der von den Zentralbanken letztendlich festgelegte Zinssatz – eingepreist wird. Dies ist auch auf das geringere strukturelle Wachstumspotenzial in Europa im Vergleich zu anderen Ländern zurückzuführen. Eine weniger überhitzte Wirtschaft abzukühlen, ist eben doch einfacher.
Spreads preisen mehr Rezessionsrisiko in Europa ein
Die Eurozone ist bisher von einer Rezession verschont geblieben, und verzeichnete im vierten Quartal 2022 ein leicht positives Wirtschaftswachstum. Dank der unerwartet milden Witterung wurden die Gasvorräte nicht so stark dezimiert wie befürchtet, und die fiskalische Unterstützung dämpfte die Auswirkungen der hohen Energiepreise, die nun etwas gesunken sind. Trotzdem und trotz des im Vergleich zu den USA günstigeren Umfelds für Zahlungsausfälle in Europa preisen die Spreads in Europa ein höheres Rezessionsrisiko ein. Mit anderen Worten: Sie bieten im Vergleich zu anderen Kreditmärkten eine höhere Kompensation für Rezessionsrisiken.
Die Spreads für Euro-Investment-Grade-Anleihen (IG) haben sich zwar von ihren Höchstständen im Jahr 2022 erholt, sind aber im Vergleich zu den 3-, 5- und 10-Jahres-Durchschnittswerten immer noch sehr hoch1[1]. Wir gehen davon aus, dass es in diesem Jahr zu einer gewissen Volatilität der Spreads kommen könnte, wenn beispielsweise Wirtschaftsdaten das Marktgeschehen in Frage stellen – wie etwa der US-Arbeitsmarktbericht vom Januar. Eine solche Ausweitung könnte den Anlegern bessere Einstiegspunkte für Kreditrisiken bieten.
Vergessener Carry-Puffer?
Mit der Neubewertung der Zinssätze haben sich die Renditen der Euro-IGs deutlich verbessert und sind so hoch wie seit über einem Jahrzehnt nicht mehr. Im Sommer 2021 wiesen knapp über 40 % des Euro-IG-Marktes eine negative Rendite auf, wobei etwa 6 % des Universums mehr als 1 % boten. Der heutige Markt ist vollkommen anders: Das gesamte Universum weist eine Rendite von mehr als 1 % auf (Abbildung 2), und die niedrigste Rendite der rund 3.500 Emissionen liegt bei 2,3 % (im Vergleich zu -0,58 % im Sommer 2021). Das anhaltende Niedrigzinsumfeld könnte bedeuten, dass die Anleger den Vorteil eines Carry-Puffers aus den Augen verloren haben. In Anbetracht der zu erwartenden weiteren Volatilität bietet ein solches Renditepolster einen hilfreichen Schutz gegen weitere Spread-Volatilität.
Wendet die Angebotslawine das Blatt?
Die Primärmärkte waren 2023 bisher sehr aktiv, und das Angebot traf auf eine starke Nachfrage. Im Januar wurden Euro-IG-Anleihen im Wert von 108 Mrd. EUR emittiert – ein Wert, der fast das Rekordniveau des gleichen Monats 2009 (110 Mrd. EUR) erreicht. Auch die Emissionswelle von Staatsanleihen im Januar wurde problemlos aufgenommen[2]. Mit der quantitativen Straffung – bzw. dem Bilanzabbau – ist jedoch noch mehr zu erwarten, sodass im Jahr 2023 mit einem Volumen von 88 Mrd. EUR gerechnet wird (Abbildung 3).
Der Rückzug der Zentralbank als Käufer wirkt sich auch auf die Kreditvergabe aus, da die Reinvestition fällig werdender Wertpapiere im Rahmen des Programms der EZB zum Ankauf von Unternehmensanleihen (CSPP) - dem Ankauf vorrangiger Kredite für Nicht-Finanzunternehmen - im März 2023 beginnen wird. Dies hat Bedenken hinsichtlich eines nicht mehr verdaubaren Angebots geschürt, allerdings wurden diese Programme rechtzeitig kommuniziert und die Nachfrage war hoch. Eine weitere Sorge im Hinblick auf potenziellen Gegenwind bei der Nachfrage betrifft die Rekalibrierung der Programme für gezielte längerfristige Refinanzierungsgeschäfte (TLTRO). Das Programm förderte die Kreditvergabe der Banken, indem es ihnen Zugang zu günstigen Finanzierungen bot und es ihnen ermöglichte, Kredite zu einem Zinssatz von nur -1 % aufzunehmen. Wir sind jedoch der Meinung, dass die Banken diese Schulden über die Emission von vorrangigen und gedeckten Anleihen refinanzieren können und höchstwahrscheinlich auch werden.
Die Emissionen vorrangiger Banktitel hatten einen Rekordstart in das Jahr 2023, und das Auslaufen des TLRO-Abschlags könnte zu weiteren Emissionen führen. Derartige Volumina könnten sich auf die Preise auswirken, allerdings könnte es sich dabei um eine Vorverlagerung handeln, sodass das Angebot im weiteren Jahresverlauf zurückgehen könnte. Hier kommen auch die Bewertung und die Kompensation ins Spiel. Wir haben eine Verengung der Spreads nach der Emission beobachtet, und die Zugeständnisse bei Neuemissionen – bei denen ein Kreditgeber für die Übernahme einer Primäremission entschädigt wird – haben zugenommen, sind aber nicht massiv. Dies lässt darauf schließen, dass die Unternehmen für die Kapitalbeschaffung nicht wesentlich mehr bezahlen müssen, was eine gesunde Nachfrage widerspiegelt. Wir gehen davon aus, dass dies auch weiterhin der Fall sein wird, da die Anleger bei einem Abschwung qualitativ hochwertige Anleihen bevorzugen.
Bankenwerte heben sich ab
Vorrangige Bankenwerte sind aus Bewertungsperspektive äußerst attraktiv, wie ein Vergleich von Nicht-Finanzwerten mit Finanzwerten und Banken mit anderen zyklischen Werten wie Industriewerten zeigt. Das Verhältnis zwischen den Spreads von Banken und Industriewerten ist extrem hoch: etwa so hoch wie während des Brexit-bedingten Abverkaufs im Juli 2016 (1,28x) und des COVID-Abverkaufs (1,25x) im März 2020 (Abbildung 4). Die Kursschwäche der Banken steht nicht im Zusammenhang mit fundamentalen Aspekten, sondern spiegelt eher die Angebotsdynamik (wie erörtert), die Einschätzung der Banken als makroökonomischer Indikator, die schwache Eigenkapital- und Liquiditätssituation der Banken wider – Bankpapiere lassen sich beim Abbau von Portfoliorisiken leichter abstoßen. Wir glauben jedoch, dass die Banken grundsätzlich gut positioniert sind, selbst wenn wir in Europa in eine Rezession geraten.
Die Banken sind optimal auf Zinserhöhungen eingestellt, und ihre Bilanzen in Europa wurden seit früheren Krisen erheblich gestärkt und verbessert. Die europäischen Banken scheinen also gut kapitalisiert und mit Rückstellungen ausgestattet zu sein – was auf umfangreiche Liquiditätspuffer hindeutet – und sind besser reguliert. Obwohl sie immer noch zyklisch sind, bedeutet dies unserer Ansicht nach, dass sie einer Rezession besser standhalten können als bisher. Ein Großteil des Nicht-Finanzmarktes ist unserer Ansicht nach zu wenig gehandelt worden. Daher sehen wir in den Banken eine große Chance, insbesondere angesichts des abnehmenden Rezessionsrisikos in Europa und des potenziellen Wachstums durch die Wiedereröffnung Chinas – mit Europa als einem der wichtigsten Exporteure nach China.
Bandbreite wird zunehmen
2023 könnte es zu einer noch größeren Bandbreite kommen, da die Prämie für EZB-fähige Schuldverschreibungen (vorrangige Anleihen außerhalb des Finanzsektors) mit dem Rückzug der EZB verschwindet. Wir sind jedoch der Ansicht, dass dies nicht zu einer drastischen Neubewertung von nicht-finanziellen Schuldtiteln führen wird, da Anleger zu wenig in Anleihen investiert sind und nicht aktiv Risiken verkaufen, sondern eher zu einer allmählichen Ausweitung von überhöhten Bewertungen.
Ein weiterer Grund für die Dispersion könnte die Gewinnschwäche sein, die sich über alle Sektoren und Unternehmen erstreckt. Bisher gab es nur vereinzelte Gewinnwarnungen, aber wir erwarten, dass sich diese häufen werden. Da es sich bei vielen IG-Unternehmen um große, globale Unternehmen handelt, sind sie möglicherweise besser positioniert, um die Krise in Europa zu überstehen und von den weltweit unterschiedlichen Zyklen zu profitieren, da die Volkswirtschaften ihre Wachstumszyklen zu unterschiedlichen Zeiten beenden.
Viele der potenziellen Schwierigkeiten, mit denen Europa und damit auch der Kreditmarkt konfrontiert sind, sind bekannte Risiken, wie z. B. das große Angebot an IG-Anleihen. Die Energiekrise ist ebenfalls eine bekannte Größe. Sie müsste sich wesentlich schlechter entwickeln als erwartet, um die Risikomärkte zu beeinträchtigen. Ebenso ist dieser globale Abschwung wohl die am meisten erwartete Rezession aller Zeiten, aber der Konsens erwartet auch die mildeste Rezession der Geschichte.
Dennoch bleiben die wirtschaftlichen Entwicklungen ungewiss. Ob die schwer fassbare – aber sehnsüchtig erwartete – weiche Landung eintritt, ist fraglich. Wir sind der Meinung, dass ein umsichtigerer Ansatz darin bestehen würde, von der großen Bandbreite der Emittenten zu profitieren, sich aber auch auf eine sorgfältige Wertpapierauswahl zu konzentrieren, um idiosynkratische Entwicklungen zu attraktiven Bewertungen zu nutzen. Auch wenn das Beenden der quantitativen Lockerung ein kollektives Vorrecht der Zentralbanken war, bedeutet die Konzentration auf die Finanzstabilität in der Eurozone, dass das Transmissionsschutzinstrument (TPI)[3] für die EZB eine Ausweichmöglichkeit bleibt. Europa könnte sich auch in diesem Fall von anderen Volkswirtschaften unterscheiden. Daher ist es wichtig, auf Anzeichen eines Kurswechsels der Zentralbanken zu achten.
Von Portfoliomanager Tim Winstone, Janus Henderson Investors