Einige der Unterschiede sind auf die Bedingungen zurückzuführen, die bereits herrschen, wenn eine Krise beginnt. Die Kampfhandlungen in der Ukraine brachen gerade zu einer Zeit aus, als sich die makroökonomische Lage zu normalisieren schien. Nach einer mehrjährigen Pandemie schien die Weltwirtschaft kurz vor einer Erholung zu stehen. Die Inflation war hoch, aber es gab Hinweise auf nachlassende Lieferengpässe, wodurch auch der Preisdruck irgendwann zurückgehen würde. Diese Hoffnungen schwinden nun aber. Die Rohstoffpreise haben kräftig angezogen, so dass befürchtet wird, die Zentralbanken könnten die geldpolitischen Zügel noch aggressiver straffen und damit das Wachstum möglicherweise ersticken. Je länger der Konflikt andauert, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Inflation angeheizt und das globale Wachstum gedämpft werden könnte.
Dadurch entsteht ein unsicheres Investmentumfeld. Die Volatilität ist hoch und wird es unseren Erwartungen nach eine Weile bleiben. Die meisten Anleger haben bereits einige Anpassungen in ihren Portfolios vorgenommen und es könnten noch weitere erforderlich werden. Mit der Zeit werden sich die Märkte jedoch erholen. Langfristige Anleger sollten unserer Ansicht nach unbedingt investiert und aktiv bleiben.
Die Tücken der Prognose
Schon zu den besten Zeiten kann das Marktverhalten extrem schwer vorhersagbar sein und selbst für erfahrene Anleger ist es schwierig, den Markt zu „timen“. Umso größer ist diese Herausforderung in einem Krisenumfeld. Wie haben sich Aktien während und kurz nach Zeiten erhöhter geopolitischer Risiken entwickelt? Die Antwort lautet: Aktien haben zwar bewiesen, dass sie sich nach dem Ende einer Krise ziemlich schnell erholen können (Grafik 1), der Zeitpunkt dieses Endes hätte sich jedoch nur schwer voraussagen lassen, und das ist heute nicht anders.
GRAFIK 1: AKTIENMARKTENTWICKLUNG WÄHREND GEOPOLITISCHER KRISEN
Quelle: Goldman Sachs Asset Management. Stand: 4. März 2022. Wertentwicklung während des Ereignisses und drei Monate nach seinem Ende.
Ebenso schwierig war es, das Marktverhalten zu Beginn der Corona-Pandemie zu prognostizieren. Anleger, die ihr Engagement in Aktien und anderen Risikoanlagen wie Unternehmensanleihen im März 2020 reduzierten, um sich in sichere Anlagen zu flüchten, hätten die anschließende rasante Erholung der Finanzmärkte verpasst. Andererseits hätten Anleger, die ihre Portfolios bei Ausbruch der globalen Finanzkrise überhaupt nicht angepasst haben, mehrere Jahre gebraucht, um ihre Verluste wieder aufzuholen. Dies dürfte nicht zuletzt ein Hinweis darauf sein, dass Portfolioentscheidungen während disruptiver Ereignisse und erhöhter Marktvolatilität ein gesundes Maß an Bescheidenheit erfordern.
Diejenigen, die sich einen langfristigen Anlagehorizont leisten können, sollten investiert bleiben und das große Ganze nicht aus den Augen verlieren. Die Wertentwicklung von Aktien kann beispielsweise kurzfristig höchst unberechenbar sein. Wie Grafik 2 zeigt, warf der S&P 500 auf täglicher Basis zwischen 1969 und 2021 nur in 54 % der Zeit positive Renditen ab – kaum besser als beim Werfen einer Münze. Betrachtet man jedoch einen dreijährigen oder längeren Anlagezeitraum, sieht die Sache ganz anders aus.
GRAFIK 2: INVESTIERT ZU BLEIBEN KANN EIN HÖHERES RENDITEPOTENZIAL BIETEN
Quelle: Goldman Sachs Asset Management. Stand: 31. Dezember 2021. Bei den eintägigen und einwöchigen Zeiträumen handelt
es sich um rollierende Zeiträume der täglichen Renditen. Bei den Einmonats- bis 15-Jahres-Zeiträumen handelt es sich um
rollierende Zeiträume der monatlichen Renditen. Die bisherige Wertentwicklung bietet keine Garantie im Hinblick auf zukünftige
Ergebnisse, die Schwankungen unterworfen sein können.
Fokus auf China
Nach welchem Ansatz Anleger investiert bleiben, macht jedoch einen Unterschied. Ein passives Engagement beizubehalten und auf das Beste zu hoffen, ist keine ideale Strategie. So haben während der letzten zehn Jahre niedrige Zinsen und eine steigende Liquiditätsflut der Zentralbanken „viele Boote angehoben“, so dass Long-Positionen in Aktien mit hohem Beta schon eine starke Strategie darstellten. In der aktuellen Krise, in der eine Straffung der geldpolitischen Zügel bevorsteht und die Märkte sich in einem mittzyklischen Umfeld befinden, rechnen wir jedoch mit stärkeren Unterschieden zwischen Anlageklassen, Sektoren und Regionen sowie zwischen Anlagen in Industrie- und Schwellenländern. Unter diesen Bedingungen sind alphaorientierte aktive Strategien unerlässlich.
Zudem ist es wichtig, beim Portfolioaufbau einen ganzheitlichen Ansatz zu verfolgen, statt Anlagen nur starr nach Anlageklassen zu betrachten. Um die Diversifikation und das Performancepotenzial zu steigern, können Anleger beispielsweise Private-Equity-Anlagen als Beimischung zu börsennotierten Aktien in Erwägung ziehen und sie nicht nur als eine Möglichkeit sehen, ein ähnliches Beta-Engagement bei höherer Hebelwirkung zu erzielen. Ein opportunistischer Ansatz bei der taktischen Portfolioaufteilung ist ebenfalls wichtig, um Anlagechancen nutzen zu können, die auf Relative-Value-Basis oder durch Marktverwerfungen kurz- bis mittelfristig entstehen.
Wir rechnen damit, dass sich der Krieg in der Ukraine in erster Linie über das Rohstoffangebot auf das globale Wachstum auswirken wird, da Russland bei Rohstoffen eine ziemlich bedeutende Stellung hat, gemessen an seinem Beitrag zum globalen Wachstum und Handel. Sanktionen und Lieferkettenprobleme hingegen stellen Aufwärtsrisiken für die Inflation bei Kerngütern (inklusive Autos), Lebensmitteln und Energie dar. Aus einer breiten Marktperspektive würde eine Eskalation der Spannungen Risikoanlagen wie Aktien und Unternehmensanleihen eher über die Marktbewertungen als über die Fundamentaldaten von Unternehmen belasten und gleichzeitig die Preise von Rohstoffen und hochwertigen Anleihen sowie als sicher geltenden Währungen nach oben treiben. Direkte private Investitionen in Russland und der Ukraine sind sowohl auf absoluter als auch auf relativer Basis gering, wenngleich die privaten Märkte insgesamt auf mittlere bis lange Sicht ähnlichem Druck ausgesetzt sein könnten wie die öffentlichen Märkte, wenn der Konflikt anhält.
Die europäischen Märkte werden voraussichtlich unter Handelsunterbrechungen, angespannteren Finanzierungsbedingungen und höheren Rohstoffpreisen leiden (Europa ist zur Deckung von etwa 40 % seines gesamten Energiebedarfs auf Russland angewiesen). Die Auswirkungen des Krieges auf die Inflation und die politische Antwort darauf werden ebenfalls ein wichtiger Faktor dafür sein, ob die Weltwirtschaft in den kommenden Jahren weiter wächst oder in eine Rezession abgleitet. Wie schnell die US-Notenbank beispielsweise die Leitzinsen anhebt, wird voraussichtlich entscheidend dafür sein, ob die USA in eine Stagflations- oder eine Rezessionsphase kommen.
Präzise vorauszusagen, was die Zukunft dieses Mal bringen wird, dürfte jedoch mit ziemlicher Sicherheit genauso schwierig sein wie in vergangenen Krisen. Anleger können nichts Besseres tun, als investiert und informiert zu bleiben und flexibel genug zu sein, um handeln zu können, wenn die Lage sich ändert.
James Ashley, Leiter Market Strategy Team, Strategic Advisory Solutions bei Goldman Sachs Asset Management