Die andauernde Konfrontation zwischen Russland und dem Westen schürt erneut Sorgen über die Entstehung eines Kalten Kriegs 2.0. Verglichen mit den breiten ideologischen Konflikten, die im 20. Jahrhundert zwischen dem Ostblock und dem Westen bestanden, sind die Anfangsphasen des Kalten Kriegs 2.0 bisher gezielter und lokalisierter. Wie es scheint, wird er jedoch voraussichtlich das Weltwirtschaftswachstum und die globale wirtschaftliche Zusammenarbeit mehr schädigen – und das praktisch ohne all die Silberstreifen am Horizont, die der erste Kalte Krieg durchaus bot. Bedenkt man die wirtschaftlichen, politischen und humanitären Kosten für alle Seiten, wird es beim Kalten Krieg 2.0 vermutlich keinen Sieger geben. Angesichts der aktuellen Lage gehen wir davon aus, dass Rohstoffe als Triebfeder des Wirtschaftswachstums eine zentralere Rolle als in früheren Konjunkturzyklen spielen werden. Zudem sollte auch der herkömmliche Fahrplan für Anlagen neu überdacht werden, um den erhöhten geopolitischen Risiken im Hinblick auf Anlagechancen in den Industrie- und Schwellenländern Rechnung zu tragen.
Rückblick: Die wirtschaftlichen Folgen des Kalten Kriegs 1.0
Im 20. Jahrhundert beobachtete die Welt eine längere Phase der Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion – sowie deren jeweiligen Verbündeten. Die beiden Blöcke vertraten gegensätzliche ideologische Überzeugungen und konkurrierten in vielen Bereichen von militärischer Entwicklung bis hin zu Wirtschaftswachstum miteinander. Jede Seite hoffte, die Überlegenheit des eigenen Systems beweisen und andere zur Nachahmung anregen zu können. Die Länder des Ostblocks und des Westens versuchten zudem, ihr Wachstum durch gegenseitige Unterstützung und Handelsliberalisierung zu stärken. Die USA legten zahlreiche Entwicklungshilfeprogramme auf, die beim Wiederaufbau Europas nach dem Krieg eine wichtige Rolle spielten. Dazu gehörte beispielsweise der US-Marshallplan, der über 13 Milliarden USD zur Finanzierung des Wiederaufbaus nach dem Krieg bereitstellte und gemeinhin als wirtschaftlicher und außenpolitischer Erfolg gilt.
In den 1970er-Jahren begann der sowjetischen Wirtschaft die Puste auszugehen. Nach einem kurzzeitigen Boom dank der Energiekrise forderte das teure Wettrüsten schließlich seinen Tribut vom Wirtschaftswachstum. Der Rückgang setzte sich während des Ölüberangebots der 1980er-Jahre fort und trug zur offiziellen Auflösung des Ostblocks 1991 bei. Den USA gelang es, ihre eigenen Rückschläge in den 1970er- und 1980er-Jahren zu überwinden und in dieser Zeit ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von mehr als drei Prozent zu erzielen.
Dieses Mal ist es anders
Die diesjährigen geopolitischen Spannungen gehen von einem regionalen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine aus, haben sich aber schnell in eine globale Konfrontation entwickelt, denn Russland setzt seine Rohstoffexporte als Waffe ein, um das wirtschaftliche Wohlergehen und die Energiesicherheit der westlichen Unterstützer der Ukraine zu bedrohen. Die Situation wird manchmal mit Kalter Krieg 2.0 betitelt, weil sie an den Ost-West-Machtkampf im 20. Jahrhundert erinnert – allerdings wird dieses Mal der wirtschaftliche Schaden größer sein.
Während des Kalten Kriegs 1.0 wuchsen die beiden Blöcke trotz des ewigen Wettrüstens. In den letzten Jahren bot die zunehmende Abhängigkeit Europas von Energieimporten Russland jedoch die Chance, Ländern, die es als „unfreundlich“ ansieht, wirtschaftlichen Schaden zuzufügen. Die USA sind, was die Energieunabhängigkeit angeht, besser aufgestellt, aber gegen die Gefahren erhöhter Lebenshaltungs- und Produktionskosten sind auch sie nicht gefeit. Die gesunkene Kaufkraft wird voraussichtlich die Konsumlaune dämpfen, während die Lieferengpässe, die die Weltwirtschaft schon eine ganze Weile plagen, durch die geringere Produktionsbereitschaft noch verschlimmert werden könnten. Für Russland machen Öl- und Erdgasexporte nach wie vor fast die Hälfte seiner Einnahmen aus. Bisher werden die niedrigeren Exportmengen noch durch höhere Preise ausgeglichen, mit der Zeit wird sich der Schaden aber vermutlich bemerkbar machen. Durch die westlichen Sanktionen sind Russlands Ölprodukte auf den Handel an kleineren Märkten zu beträchtlichen Abschlägen beschränkt, aber die Ausgaben für den heißen Krieg auf ukrainischem Boden laufen weiter. Sollte die Weltwirtschaft tatsächlich in eine Phase einer einschneidenden Konjunkturverlangsamung kommen, würden die Energiepreise voraussichtlich zusammen mit der Energienachfrage sinken und Russlands Position weiter schwächen.
Der Kalte Krieg 2.0 wird vermutlich auch stärker spalten als der Kalte Krieg 1.0. Zu Beginn des Russland-Ukraine-Konflikts waren die EU-Länder schnell vereint in ihrer gemeinsamen Haltung gegen die humanitäre Tragödie. Deutlich länger hat es bei den Mitgliedstaaten jedoch gedauert, bis sie sich darauf einigen konnten, Sanktionen gegen russisches Erdgas zu verhängen, denn die Abhängigkeit und die Ausweichmöglichkeiten sind in jedem Land anders. Es ist unwahrscheinlich, dass eine moderne Version eines Marshallplans oder eine andere Form der internationalen Hilfe das europäische Erdgasdilemma auf die Schnelle lösen kann, da es Jahre dauert, die Verteilungsinfrastruktur aufzubauen und umzuleiten. Andererseits haben sich die traditionellen Verbündeten Russlands wie etwa Kasachstan während der aktuellen Auseinandersetzung distanziert. Russland hat sich wiederum um eine engere Zusammenarbeit mit China bemüht. Das Verhältnis zwischen Russland und China war in der Vergangenheit und sogar während des ursprünglichen Kalten Kriegs angespannter, als viele im Westen wussten. Die Bitte um Chinas Unterstützung im Kalten Krieg 2.0 schafft neue Herausforderungen für die Beziehung der beiden Länder, denn sie steht der engen Beziehung Chinas mit Europa entgegen.
Unter geopolitischen Gesichtspunkten ist der Ausblick für den Kalten Krieg 2.0 noch düsterer. Russlands ursprüngliches Ziel war vielleicht, seine Vorherrschaft in der Ukraine zu stärken und das Land daran zu hindern, der NATO beizutreten, die in den letzten Jahrzehnten etliche ehemalige Sowjet- und Ostblockstaaten aufgenommen hat. Durch Russlands militärische Aggression gegen die Ukraine hat sich die öffentliche Wahrnehmung der Risiken in der Region jedoch verändert, sodass nun neue Länder mehr Schutz vor einem russischen Einmarsch möchten. Finnland und Schweden sind sogar so weit gegangen, ihre langjährige Neutralität aufzugeben und eine NATO-Mitgliedschaft zu beantragen. Wenn es zu einer Aufnahme kommt, wäre das die wichtigste Erweiterung der NATO seit Jahren und eine strategische Stärkung der NATO-Präsenz im Baltikum. Diese Entwicklung läuft dem entgegen, was Russland vielleicht beabsichtigt hatte, und verschärft den Konflikt zwischen den beiden Seiten weiter. Zukünftiges Geplänkel ist möglich, und die weitere Entwicklung erscheint höchst unsicher.
Schlussfolgerungen für Investments
Dank einer besseren Energieversorgung, mehr Effizienz und der Verfügbarkeit alternativer Energiequellen haben Rohstoffschocks schon seit geraumer Zeit nicht mehr so einschneidende Folgen für das Wirtschaftswachstum. Dennoch zeigt die aktuelle Situation, dass die Märkte die geopolitischen Verwundbarkeiten der globalen Energieversorgungslage größtenteils außer Acht gelassen haben. Das hat sich erst geändert, als ein Krieg sich diese Verwundbarkeiten zunutze machte. Der Kalte Krieg 2.0 befindet sich noch in der Entwicklung, aber wir gehen davon aus, dass Rohstoffen eine zentralere Rolle als Triebfeder des Wirtschaftswachstums zukommen wird, während herkömmliche Instrumente der Zentralbanken voraussichtlich nur begrenzt in der Lage sein werden, die Wogen externer Wachstums- und Inflationsschocks zu glätten.
Daher könnte der Kalte Krieg 2.0 dazu führen, dass die Liste der sicheren Häfen in Industrieländern eine neue Rückversicherung erhält, und den Ausblick für Schwellenländeranlagen belasten. Auf kurze Sicht hat der US-Dollar sich bereits besser entwickelt als europäische Währungen und der japanische Yen (JPY). Der Ausblick für traditionelle sichere Häfen wie der JPY könnte auch weiterhin von der Abhängigkeit des jeweiligen Landes von Energieimporten überschattet werden. Für die Schwellenländer bedeuten die Dollarstärke und die gesunkene globale Risikobereitschaft auch, dass die Zukunft schwieriger wird. Rohstoffexporteure sind zwar bis zu einem gewissen Grad in der Lage, Wachstums- und Inflationsprobleme durch bessere Handelsbilanzen auszugleichen, aber von Lebensmittel- und Kraftstoffimporten abhängige Länder sind eventuell besonders anfällig, selbst wenn sie keinen direkten Handel mit Russland betreiben.
Die Auswirkungen für eine globale Diversifikation sind nuancierter. Einerseits geht die stärkere Fragmentierung durch den Kalten Krieg 2.0 mit niedrigeren Korrelationen und besseren Diversifikationsmöglichkeiten einher, aber Anleger sollten auch die erhöhten politischen Risiken berücksichtigen, die im Zeitalter des Kalten Kriegs 2.0 entstehen könnten. Wenn China und Indien beispielsweise als zu eng mit Russland verbündet angesehen werden, könnten auch ihnen Vergeltungsmaßnahmen drohen und sie könnten sekundäre Ziele westlicher Sanktionen werden. Wenn es zu plötzlichen regulatorischen Änderungen kommt, kann Kapital eventuell nicht mehr frei fließen. Abschließend möchten wir bekräftigen, dass wir nach wie vor der Meinung sind, dass internationale Diversifikation wichtige Vorteile bietet, aber in einer Zeit, in der die Märkte geopolitische Risiken neu einpreisen, müssen Chancen sorgfältig abgewogen werden.
Shoqat Bunglawala, Head of Multi-Asset Solutions bei Goldman Sachs Asset Management