Am 20. Mai war es auf den Tag genau 525 Jahre her, dass Vasco da Gama Indien erreichte. Da Gama erfüllte damit einen Auftrag des portugiesischen Königs Manuel I. Dieser hatte ihn auf die Reise geschickt mit dem Ziel, einen Seeweg nach Indien zu finden, um den Handel mit Gewürzen und anderen wertvollen Waren zu erleichtern. Die Portugiesen waren zwar nicht die ersten Europäer, die den Subkontinent erreichten, aber sie waren tatsächlich die ersten, die den Seeweg von Europa nach Indien über den Indischen Ozean entdeckten und nutzten. Diese Entdeckung ermöglichte es Portugal, einen Handelsstützpunkt in Indien zu errichten und das Geschäft mit Gewürzen und anderen Waren aufzubauen.
525 Jahre später sind es Aktienanleger, die Indien neu entdecken. Denn die Perspektiven des Subkontinents sind besser als die aktuellen Bewertungen vermuten lassen.
Interessante Bewertungen
Zwar korrigierte der MSCI India im ersten Quartal 2023 um mehr als sechs Prozent. Damit machte der Index, der die größten und umsatzstärksten Unternehmen Indiens abbildet, die Hälfte seiner Outperformance aus den beiden starken Vorjahren wieder zunichte. Verglichen mit dem 10-Jahres Durchschnitt von 18x erscheinen die aktuellen Bewertungen wesentlich angemessener. Selbst auf relativer Basis hat sich der Aufschlag Indiens gegenüber der Region Asien ohne Japan halbiert. Indien bietet im Vergleich zur Region Asien ohne Japan ein interessantes Risiko-Rendite-Profil für Anleger.
Inmitten der Bewertungskorrekturen und Marktvolatilität haben qualitativ hochwertige Unternehmen mit einer starken Bilanz und hohen Eigenkapitalrendite, die zu angemessenen Bewertungen gehandelt werden, im aktuellen Umfeld gute Perspektiven – angetrieben durch die Erholung in konsumnahen Sektoren wie Banken, Investitionsgüter, Gesundheitswesen und Basiskonsumgüter.
Starkes Wachstumsprofil
Indiens Aussichten heben sich auch von denen anderer Schwellen- und Industrieländer ab. Das Land weist ein starkes Wachstumsprofil auf. Die Wachstumsgeschichte des Subkontinents wird sich mittel- bis langfristig entfalten, unterstützt durch disruptive Trends der Digitalisierung und Urbanisierung, durch die politischen Entscheidungsträger, die günstige Veränderungen zur Förderung von Investitionen vorantreiben, und durch einen Anstieg des Gewinnanteils der Unternehmen am Bruttoinlandsprodukt (BIP). Der Fokus der aktuellen Regierung auf Investitionsausgaben, entlastete Unternehmensbilanzen und ein gut kapitalisiertes Bankensystem werden eine entscheidende Rolle bei der Wiederbelebung des Investitionszyklus spielen.
Da sich die Spannungen zwischen den USA und China weiter verschärfen, sind internationale Unternehmen bestrebt, ihre Lieferketten zu diversifizieren, um ihre Abhängigkeit von einer einzigen Wirtschaft zu verringern. Indien kann von dieser Entflechtung der Lieferketten profitieren, die durch die "Make in India"-Initiative der Regierung unterstützt wird. Diese zielt darauf ab, die Eigenständigkeit durch produktionsgebundene Initiativen (PLI), Importverbote und Steuervergünstigungen zu fördern. Dies könnte beträchtliche Investitionen in das verarbeitende Gewerbe anziehen und weltweit wettbewerbsfähige Produktionsstandorte schaffen. Indien hat sich zum Ziel gesetzt, den Anteil des verarbeitenden Gewerbes am BIP bis 2025 von etwa 15 Prozent auf 25 Prozent zu erhöhen. Auch die Initiativen der Regierung, die Digitalisierung mit Programmen wie "Gati Shakti" voranzutreiben, dürften Indiens globale Wettbewerbsfähigkeit verbessern, indem sie die Logistikkosten in den kommenden Jahren von 14-15 Prozent auf eine einstellige Zahl oder vier bis fünf Prozent senken. Mit dem Programm "Gati Shaki" wurde eine digitale Plattform eingeführt, die 16 Ministerien wie Telekommunikation und Eisenbahn mit einem Plan zum Aufbau und zur gemeinsamen Nutzung aller Infrastrukturkonnektivitätsprojekte bis 2025 zusammenbringt, wodurch die Logistikkosten erheblich gesenkt und die Durchlaufzeiten verbessert werden.
Die laufenden Bemühungen der politischen Entscheidungsträger sind das Rückgrat der indischen Wachstumsgeschichte. Sie haben nicht nur die wirtschaftlichen Fundamentaldaten des Landes, sondern auch sein ESG-Profil verbessert. Manchmal können diese kleinen Initiativen kurzfristigen Gegenwind verursachen, aber langfristig könnten sie zu einem erheblichen Wohlstandszuwachs führen.
Die Wachstumsperspektiven basieren darüber hinaus vor allem auf den folgenden Faktoren:
• Große Verbraucherbasis: Indien ist in erster Linie eine binnenorientierte Wirtschaft, wobei 70 Prozent des BIP auf inländischen Konsum und Investitionen entfallen. Konsumaspekte im Zusammenhang mit Millennials, insbesondere in den Bereichen Consumer-Tech – E-Commerce, Gaming, Food-Tech, Edu-Tech und Fintech – werden eine treibende Kraft für Indiens Wachstum sein. Im Vergleich zu anderen Ländern wie den USA und China ist der Verbreitungsgrad dieser Dienstleistungen in Indien noch gering und es wird erwartet, dass er mit der Zeit wächst.
• Energieautarkie: In einem ehrgeizigen Projekt plant die indische Regierung, das Land bis zum Jahr 2047, dem 100. Jahrestag der Unabhängigkeit Indiens, in der Energieversorgung vollständig unabhängig zu machen, indem sie Projekte für erneuerbare Energien in Höhe von 197 Mrd. USD genehmigt. Da sich die Welt langsam auf umweltfreundlichere und nachhaltigere Kraftstoffalternativen umstellt, hat die Regierung den Start einer nationalen Wasserstoffmission angekündigt, die darauf abzielt, das Ziel eines kohlenstofffreien Kraftstoffs aus erneuerbaren Energien zu beschleunigen und Indien zu einem globalen Zentrum für die Produktion und den Export von grünem Wasserstoff zu machen. Die Projekte im Rahmen dieser Mission zielen auf die Produktion von Wasserstoff aus erneuerbaren Quellen, seine sichere Lagerung, seinen Transport und seine Nutzung ab. Sie würden nicht nur zur Schaffung von mehr Arbeitsplätzen und einem gesteigerten Einkommens beitragen, sondern auch neue Investitionsmöglichkeiten in diesen Sektoren eröffnen.
• Digitales Indien: Ein Trend, der 2015 begann, hat inzwischen mehrere Sektoren durchdrungen und kommt Millionen von Menschen durch die Einführung digitaler Bankgeschäfte und Geldbörsen zugute, wodurch Ineffizienz und Korruption, die normalerweise mit Bargeldtransaktionen einhergehen, reduziert werden. Die Digitalisierung hat nicht nur dem Finanzsektor geholfen, sondern auch die Verwaltung in anderen Sektoren verbessert, etwa im Gesundheitswesen durch eigens entwickelte Anwendungen zur Überwachung der Fallzahlen und des Impfstatus, was die beschleunigte Erholung des Landes von der Corona-Pandemie unterstützt. Mit 43 Prozent der Bevölkerung, die derzeit an das Internet angeschlossen sind und deren Zahl bis 2040 auf 1,5 Milliarden ansteigen soll, hat das Programm "Digitales Indien" das sozioökonomische Schema des Landes neu gestaltet und könnte es an die Spitze der digitalen und technologischen Innovation in den Bereichen Fintech, Bildung, E-Commerce und anderen Verbrauchersektoren katapultieren.
Stabiles Inlandswachstum
Das Inlandswachstum bleibt angesichts der nachgebenden Rohstoffpreise und eines starken Anstiegs der Dienstleistungsexporte stabil, was das Gewinnwachstum der Unternehmen im Laufe des Jahres unterstützen dürfte. Auch wenn sich das Ertragswachstum abschwächen könnte, ist mit einer Erholung der Margen bei nachlassendem Inflationsdruck und niedrigeren Inputkosten zu rechnen. Fast Moving Consumer Goods(FMCG)-Unternehmen werden im Jahr 2023 wahrscheinlich ein beschleunigtes Gewinnwachstums erleben, da die Margen aufgrund niedrigerer Rohstoffkosten und eines verbesserten Volumenwachstums steigen werden.
Zinserhöhungen unwahrscheinlich
Die Zentralbank Indiens RBI prognostiziert für das Finanzjahr 2023-24 eine Inflation von 5,2 Prozent (innerhalb des Zielbereichs der Regierung von zwei bis sechs Prozent) und ein BIP-Wachstum von 6,5 Prozent. Wirtschaftsexperten gehen davon aus, dass die RBI eine längere Pause einlegen wird, da sie die verzögerte Wirkung früherer Zinserhöhungen und anderer globaler makroökonomischer Faktoren bewertet, die die Wachstums-Inflations-Dynamik belasten.
Fazit
In vielerlei Hinsicht befindet sich Indien derzeit in einer ähnlichen Lage wie um das Jahr 2003, als ein investitionsgetriebener Boom zu einem starken Wachstum der Unternehmensgewinne führte. Indien ist bereits die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt und wird voraussichtlich weiter aufsteigen.
Anlegern bieten sich aus einer Bottom-Up-Perspektive zahlreiche interessante Anlagemöglichkeiten. Wenn die langfristigen Wachstumschancen konsequent genutzt werden, kann die Aufsummierung von Alpha über den Zyklus hinweg eine große Komponente der Gesamterträge für aktive Manager im oberen Quartil/Dezil sein. Zusätzliche Faktoren wie starke Makrothemen, politische Stabilität und die jüngsten Maßnahmen der Regierung untermauern das Vertrauen in die positiven Aussichten für Indien.