„Value“ und „Growth“ wurden bislang als klar abgegrenzte Anlagestile angesehen, die den Markt im Wechsel dominieren. Doch möglicherweise ist es an der Zeit für einen ganzheitlichen Blick auf die Faktoren, die für die Alphagenerierung einer Unternehmensaktie von Bedeutung sind.
Die Welt gewinnt zunehmend an Komplexität. Die Treiber für Unternehmenswachstum verändern sich, und die Abgrenzung zwischen den beiden traditionellen Anlagestrategien „Growth“ und „Value“ ist weniger klar erkennbar. Zudem können im Rahmen des Konjunkturzyklus weitere unternehmensspezifische Faktoren die Wertentwicklung von Aktien beeinflussen. Anleger können sich diese Entwicklung zunutze machen, indem sie Kategoriebezeichnungen kritisch betrachten und einen strategischen Aktienmix beider Stile in ihrem Portfolio umsetzen.
Nach der Pandemie – in einem Umfeld mit stärkerer Inflation, höheren Renditen und einem bis vor Kurzem über dem Potenzial liegenden Wachstum – erlebt Value-orientiertes Anlegen nach 15-jähriger Underperformance ein Comeback. In vielen Marktkommentaren wird diese Entwicklung als Vorbote für eine lange Phase der Value-Dominanz angesehen. Möglicherweise gewinnt der Value-Ansatz im nächsten Marktzyklus an Zugkraft. Dennoch sollten Anleger unseres Erachtens eine Kombination aus Growth- und Value-Titeln in ihrem strategischen Portfolio in Erwägung ziehen.
Value vs. Growth: Ein Rückblick
Der Value-Ansatz wies über lange Jahre eine Erfolgsbilanz für überdurchschnittliche Renditen auf und dominierte den Markt zwischen 1970 und Anfang 2007 auf kumulativer Basis. Der Growth-Ansatz herrschte hingegen von Mitte 2007 bis zum Beginn der Corona-Pandemie vor, als sich das Blatt zu wenden begann.
Bei einem Blick in die Vergangenheit als Grundlage für den Ausblick in die Zukunft muss jedoch stets auch das Wechselspiel zwischen zyklischer Dynamik und langfristigen Trends berücksichtigt werden. Langfristige Trends (die sich in näherer Zukunft voraussichtlich fortsetzen werden) können einen Zyklus dominieren und maßgeblich für die langfristige Entwicklung von Growth- bzw. Value-Titeln sein.
Die Umfelder, die einen Value- bzw. einen Growth-Ansatz begünstigen, sind jeweils durch sehr unterschiedliche langfristige Faktoren gekennzeichnet. Tendenziell schneiden Value-Titel in Zeiten einer hohen Inflation, einer starken Konjunktur und hoher Zinssätze besser ab. Eine verhaltene Inflation, ein vergleichsweise schwaches Wirtschaftswachstum und niedrige bzw. fallende Zinsen hingegen sind oftmals günstige Voraussetzungen für Wachstumsaktien.
Value-Aktien schneiden bei inflationären Bedingungen tendenziell gut ab. Dafür gibt es zwei wichtige Gründe. Erstens kommt es häufig zu einer Inflation, wenn die Nachfrage das Angebot übersteigt. In dieser Phase ist das Gewinnwachstum generell leichter zugänglich, sodass die Anleger weniger bereit sind, einen Aufschlag zu zahlen. Gleichzeitig herrscht in der Regel eine hohe Nachfrage nach traditionellen Value-Branchen. Zweiten hängt der Zeitwert eines Vermögenswerts teilweise von den Kapitalkosten ab – insbesondere dann, wenn die Cashflows in der Zukunft liegen.
Finanzkrise, Stagnation und virtuelle Disruption: Ein Blick auf die Entwicklung von Growth-Anlagen
Diese Phase dominierte bis zur globalen Finanzkrise 2008, mit der dann eine Phase der langfristigen Stagnation begann, die wiederum günstige Voraussetzungen für Growth-Anlagen bot. Die Zeit nach der globalen Finanzkrise war von einer hartnäckigen Phase mittelmäßigen Wirtschaftswachstums gekennzeichnet. Die Inflationszahlen bewegten sich auf Rekordtiefständen. Als Reaktion darauf hielten die Zentralbanken die Leitzinsen nahe null bzw. senkten sie sogar ins Negative und überschwemmten die Märkte im Rahmen von Programmen zur quantitativen Lockerung mit günstigem Geld, um Konjunkturimpulse zu setzen. Angesichts negativer Kapitalkosten und des begrenzten Wachstums investierten Anleger ihr Geld in die wenigen Unternehmen, die ein Gewinnwachstum auswiesen. In diesem Zeitraum gab es einige Trendwenden, die jedoch nie lange anhielten, da sich deflationäre Kräfte und geringere Anleiherenditen durchsetzten.
Die Outperformance von Wachstumstiteln erreichte 2020 ihren Höhepunkt, als in der Corona-Pandemie weltweit die Konjunktur abrupt einbrach und die Zentralbanken Schwerstarbeit leisten mussten. Als sich das Leben in „virtuelle Sphären“ verlagerte, profitierten Wachstumstitel von der beschleunigten Innovation und Disruption. Digitale Anwendungen setzten sich innerhalb weniger Monate durch – eine Entwicklung, die ansonsten Jahre gedauert hätte. In vielen klassischen Value-Sektoren hingegen versiegten die Einnahmequellen aufgrund flächendeckender Lockdowns.
Kurzfristige Trendwenden: Von Value zu Growth und zurück
Die letzte Wende hin zu Value-Titeln war die Bekanntgabe eines Covid-19-Impfstoffs, der letztlich eine globale Wiedereröffnung ermöglichte und einen rasanten Anstieg der Inflation nach sich zog. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch den Krieg in der Ukraine, der die Zentralbanken zum schnellsten und stärksten Straffungszyklus seit Jahrzehnten bewegte. Auf kurze Sicht könnte jedoch die Zyklusdynamik erhebliche Kursbewegungen in die Gegenrichtung auslösen.
Wir beobachten innerhalb des allgemeinen Markttrends kurzfristige Trendwenden, die verhindern, dass sich eine der beiden Strategien klar durchsetzt. Ein Blick auf zyklische Wendepunkte zeigt, dass es während der zwei längeren Zeiträume, in denen jeweils ein Anlagestil dominierte – der Value-Ansatz von 1970 bis 2007 und der Growth-Ansatz von 2007 bis 2020 – jeweils auch kurze Phasen einer Trendumkehr gab. Seit Januar 1970 gab es sieben Phasen, in denen der Value-Ansatz länger als ein Jahr ertragreicher war, und sieben Phasen, in denen der Growth-Ansatz über mehr als ein Jahr besser abschnitt. Bei einer höheren Stilwechselfrequenz gäbe es naturgemäß auch häufigere kleinere Trendwenden.
Zusammenfassung
Die klare Unterscheidung zwischen den Anlagestilen "Value" und "Growth" ist weniger klar erkennbar geworden, da sich die Treiber für Unternehmenswachstum und die Wertentwicklung von Aktien im Laufe des Konjunkturzyklus verändern. Nach einer 15-jährigen Underperformance erlebt Value-orientiertes Anlegen ein Comeback, insbesondere in einem Umfeld mit stärkerer Inflation und höheren Renditen. Ein strategisches Portfolio sollte jedoch eine Kombination aus Growth- und Value-Titeln berücksichtigen.