Die wichtigsten Erkenntnisse:
„Wie schon bei der vorangegangenen Sitzung wird die Inflation als ‚für zu lange Zeit zu hoch‘ angesehen. Allerdings ist der EZB-Rat hinsichtlich weiterer Zinserhöhungen weniger entschlossen. Stattdessen wird lediglich von ‚ausreichend restriktiven Maßnahmen‘ gesprochen.
Außerdem bewertet der EZB-Rat nun die Übertragung früherer geldpolitischer Maßnahmen als ‚eindringlich‘, da er feststellt, dass strengere Finanzierungsbedingungen ‚die Nachfrage zunehmend dämpfen‘, während eine kurzfristige Konjunkturabschwächung anerkannt wird.
In der Frage-und-Antwort-Runde verfolgte EZB-Präsidentin Christine Lagarde dieses Mal einen deutlich datenabhängigen Ansatz. Sie deutete auf zusätzliche Inflationsdaten und die aktualisierten Makroprognosen hin, die bei der September-Sitzung verfügbar sein werden.
Insgesamt war der Ton deutlich ausgeglichener als bei früheren Treffen. Für die Sitzung am 14. September wurde lediglich eine Zinssenkung ausgeschlossen, die Möglichkeit einer Pause oder einer weiteren Erhöhung jedoch ausdrücklich erwähnt. Daher ist unsere Prognose einer weiteren Erhöhung um 25 Basispunkte auf 4,0 Prozent sehr knapp. Inflationsdaten und die aktualisierten Makroprojektionen der EZB werden von entscheidender Bedeutung sein.
Makrodaten stellen die Prognosen der EZB in Frage
Seit der letzten geldpolitischen Sitzung tendiert die Inflation weiter nach unten (auf 5,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr im Juni), während wichtige Stimmungsindikatoren wie der Gesamt-Einkaufsmanagerindex (Schnellschätzung für Juli von 48,9) eine Verlangsamung der Aktivität zeigen – sogar mit der Gefahr eines Abschwungs. Insbesondere die Aktivitätsdaten stehen im Widerspruch zu den rosigen Aussichten der Juni-Prognosen. Bei der EZB-Sitzung räumte der Generaldirektor ein, dass sich die kurzfristigen Wirtschaftsaussichten verschlechtert haben, und dass die Arbeitsmarktdynamik im verarbeitenden Gewerbe sogar negativ werden könnte. Es wurde jedoch argumentiert, dass ‚eine sinkende Inflation, steigende Einkommen und eine Verbesserung der Versorgungsbedingungen den Aufschwung wieder unterstützen sollten‘.
Die zugrunde liegende Inflation gibt weiterhin Anlass zur Sorge. Die für 2024 prognostizierte Gesamtinflationsrate von 3,0 Prozent liegt deutlich über dem Konsens und unserer eigenen Erwartung von 2,4 bis 2,5 Prozent im Jahresvergleich. Die EZB betont die Verlagerung von externen (Energie, Nahrungsmittel) zu inländischen (z. B. Löhnen) Inflationsquellen. Insgesamt wurde deutlich, dass auch innerhalb des EZB-Rats zunehmende Zweifel an den jüngsten positiven makroökonomischen Prognosen der EZB bestehen.
Restriktivere Politik zeigt Wirkung
Gleichzeitig mehren sich die Anzeichen dafür, dass sich die restriktivere Politik in der Wirtschaft niederschlägt. So fiel beispielsweise das Kreditwachstum an Haushalte (1,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr im Juni) und Unternehmen auf den niedrigsten Stand seit Mai 2016 und November 2021. Auch die jüngste Bank Lending Survey deutet auf eine weitere Abschwächung der Kreditnachfrage hin. Auf der Juni-Sitzung erklärte der EZB-Rat, dass er keine Unsicherheiten mehr hinsichtlich der Auswirkungen seiner Politik sehe, sondern dass diese ‚allmählich Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaft haben werde‘. Der Rat bewertet nun die Übertragung der vergangenen geldpolitischen Maßnahmen als ‚eindringlich‘ und stellt fest, dass strengere Finanzierungsbedingungen ‚die Nachfrage zunehmend dämpfen‘.
Das Ende des Zinserhöhungszyklus steht vor der Tür, aber Zinssenkungen sind erstmal nicht in Sicht: Mit der aktuellen neunten Erhöhung in Folge sind die Leitzinsen insgesamt um 425 Basispunkte gestiegen. Wir haben immer noch eine weitere Zinserhöhung um 25 Basispunkte in unseren Büchern, räumen aber ein, dass dies angesichts der heutigen Pressekonferenz unwahrscheinlicher geworden ist. Denn wir gehen davon aus, dass die makroökonomischen Prognosen der EZB im September deutlich nach unten korrigiert werden müssen. Auf jeden Fall rechnen wir weiterhin damit, dass im dritten Quartal der Spitzenzinssatz erreicht wird. Aus unserer Sicht wird die EZB die Notwendigkeit dafür hervorheben, den Spitzenzins länger auf diesem Niveau zu halten. Wir erwarten eine erste Zinssenkung erst gegen Ende 2024.“
Von Martin Wolburg, Senior Economist bei Generali Investments