TINA, oder „There Is No Alternative“, ist seit fast zwei Jahrzehnten das Mantra der Märkte, wobei sich die Anleger in dieser Zeit vor allem auf die Wall Street konzentriert haben. Wir warnen schon seit einiger Zeit vor einem übermäßigen Konzentrationsrisiko auf dem US-Markt, und seit Anfang März haben wir eine deutliche Korrektur erlebt, die die Bewertungen im Technologiesektor wieder auf das Niveau von vor Trump* gebracht hat.
War dies eine gewöhnliche Korrektur oder hat sich der Wind gedreht?
Die Unsicherheit, die durch Trumps hundert Tage von Drohungen und Einschüchterung entstanden sind, insbesondere die unvorhersehbaren Änderungen in der Zollpolitik, mögen die Märkte sicherlich nicht. Allgemein betrachtet beruht der Erfolg der Wall Street auf der Wahrnehmung der USA als berechenbarer Markt, der auf weithin konsentierten, dauerhaften Grundsätzen und der Rechtsstaatlichkeit fußt. Jedes Ereignis, das auch nur den geringsten Zweifel an diesen Grundlagen aufkommen lässt, beeinträchtigt unweigerlich den impliziten "Risikoabschlag", den Anleger seit langem mit den Vereinigten Staaten verbinden.
Investoren bevorzugen nämlich Regionen, in denen die Stabilität und Vorhersehbarkeit der Regeln und des Wirtschaftssystems gut etabliert sind. Dies ist einer der Gründe, warum Investoren in den letzten drei Jahren China den Rücken gekehrt haben. Das harte Durchgreifen der Regulierungsbehörden im Technologiesektor und die anhaltende Immobilienkrise haben ein Umfeld geschaffen, das als ungünstig für privatwirtschaftliche Investitionen empfunden wird.
Aber welches Land scheint im Moment „berechenbarer“ zu sein - die USA oder China?
China strebt nicht mehr nach hohen Wachstumsraten, sondern konzentriert sich stattdessen auf die Industriepolitik in strategischen Sektoren wie KI, Halbleiter, Energie und Elektromobilität, in denen chinesische Unternehmen den lokalen Markt dominieren und international rasch expandieren.
Das Wachstumsziel von 5% bis 2025* soll durch eine „proaktive Finanzpolitik“ zur Förderung des Binnenkonsums und der technologischen Innovation erreicht werden. Obwohl noch keine bahnbrechenden Maßnahmen umgesetzt wurden, gibt es Anzeichen für einen Wandel. So wurde beispielsweise das Haushaltsdefizit auf 4% des BIP festgesetzt, gegenüber 3% im letzten Jahr* - der höchste Wert seit drei Jahrzehnten. Im Bereich der technologischen Innovation wurde eine neue Anleiheplattform angekündigt, die Technologieunternehmen dabei helfen soll, Onshore- Schulden für ihr Wachstum zu begeben, sowie das Darlehensprogramm für innovative Branchen auf 127 Mrd. EUR* verdoppelt. Darüber hinaus hat der Finanzminister jüngst betont, dass neben den Investitionen in die Infrastruktur auch „in die Menschen“ investiert werden müsse - eine bedeutsame Veränderung in der offiziellen Sprache.
Trotz der nachgewiesenen Erfolgsgeschichte Chinas als Wiege der Innovation neigen Investoren immer noch dazu, das Potenzial des Landes zu unterschätzen. Laut dem „Critical Technology Tracker“ des Australian Strategic Policy Institute ist China bei 57 von 64 kritischen Technologien weltweit führend. Dieser Erfolg ist nicht nur auf eine aggressive Industriepolitik und ein Vierteljahrhundert vorteilhafter globaler Handelsbedingungen zurückzuführen, sondern auch auf die unternehmerische Brillanz vieler Einzelpersonen in einer der am wettbewerbsintensivsten Volkswirtschaften der Welt. In einer langen Liste von Branchen sind die stärksten Konkurrenten unserer eigenen besten Unternehmen zunehmend Chinesen. Wenn diese chinesischen Champions so furchterregend sind, dass nur eine imposante Reihe von Handelsschranken die steigende Flut des Wettbewerbs aufhalten kann, sollten wir als Investoren uns vielleicht fragen, ob wir uns nicht wichtige Chancen entgehen lassen. Vor allem in Anbetracht der Informationsasymmetrie und der allgemein nicht anspruchsvollen Bewertungen.
Chinas Unterstützung industrieller Innovation steht im Einklang mit seiner Absicht, „open for business“ zu bleiben und sich gleichzeitig als berechenbares Ökosystem zu positionieren. Die jüngste öffentliche „Rehabilitierung“ von Jack Ma und der weltweite Erfolg von DeepSeek, über die in den chinesischen Medien ausführlich berichtet wurde und die von der Öffentlichkeit begrüßt wurden, sind klare Signale für einen – zumindest vorläufigen - strategischen Rückzug von den
„Exzessen des Etatismus“ der Null-Covid-Jahre. Peking wurde nachdrücklich daran erinnert, dass die Förderung einer wirklich innovativen Wirtschaft immer noch bedeutet, privates Unternehmertum zu ermutigen und zu befähigen, sich zu entfalten.
Dieser Wunsch nach Stabilität spiegelt sich auch auf dem Devisenmarkt wider: Der US-Dollar ist gegenüber dem Onshore-Renminbi praktisch unverändert geblieben (-0,9%), während der Euro leicht zugelegt hat, was zu einer Abwertung der chinesischen Währung um rund 4% seit Jahresbeginn geführt hat.* Peking steuert seinen Wechselkurs gegenüber dem Dollar sorgfältig, um die Stabilität zu wahren, und nutzt gleichzeitig die Abwertung anderer Währungen, um die Exporte, insbesondere innerhalb Asiens, anzukurbeln.
China möchte seine Währung auch als Referenz für blockfreie Länder etablieren. Die Aufrechterhaltung eines stabilen Renminbi ist daher ein wichtiges Ziel, um seine wirtschaftliche Relevanz zu signalisieren. Nach Angaben der Allgemeinen Zollverwaltung Chinas ist das Land inzwischen zum führenden Handelspartner für mehr als 150 Länder und Regionen geworden. In diesem Zusammenhang ist ein starker Euro auch für China von Vorteil.
Die neu eingeführten Zölle in Höhe von 10-15% - als Reaktion auf Trumps umfassende Erhöhung der Zölle auf alle chinesischen Einfuhren* um 20% - sind auf bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse beschränkt, um eine Eskalation des Handelskriegs vorerst zu vermeiden. Diesem Ansatz entspricht auch die Entscheidung Chinas, seine Währung nicht abzuwerten.
Der Zollkrieg ist noch nicht voll im Gange und seine langfristigen Auswirkungen auf den Welthandel bleiben abzuwarten. In einem Szenario, in dem Zölle keine gezielte Waffe sind, die auf einige wenige spezifische Industrien oder gegnerische Nationen abzielt, sondern eine breit angelegte Politik, die alle Handelspartner der USA betrifft und versucht, die Regeln des Welthandels neu zu schreiben, hat China Wettbewerbsvorteile, die es paradoxerweise widerstandsfähiger machen könnten als die meisten anderen Länder und Märkte. Chinas tief integrierte Lieferketten und seine Fähigkeit, die Produktion zu skalieren, sind weltweit konkurrenzlos. Hinzu kommt eine wachsende Innovationsfähigkeit, und es liegt auf der Hand, dass Chinas Spitzenunternehmen ihre globale Wettbewerbsfähigkeit auf Jahre hinaus erhalten könnten.
Aus diesen Gründen glauben wir, dass der in den letzten Jahren vorherrschende Pessimismus gegenüber China heute weniger gerechtfertigt ist. Die strukturellen Probleme Chinas sind hinlänglich bekannt und werden häufig in den Marktbewertungen berücksichtigt. Dasselbe kann man jedoch noch nicht über das Potenzial der besten Unternehmen des Landes sagen.
Von Carlo Gioja, Portfoliomanager und Leiter der Geschäftsentwicklung in Asien, Plenisfer Investments SGR
*Quelle: Bloomberg