Die EZB hat heute den Leitzins um 25 Basispunkte gesenkt. Im Vorfeld der Sitzung hatten die EZB-Entscheidungsträger sehr deutlich gemacht, dass es heute zu einer Zinssenkung kommen würde. Die heutige Zinssenkung wurde daher von den Finanzmärkten vollständig eingepreist und weitgehend erwartet. Wichtig ist, dass sich die EZB nicht auf einen bestimmten Zinspfad festgelegt hat. Dies bedeutet, dass es keine Verpflichtung zu weiteren Zinssenkungen in diesem Jahr gibt.
Die aktuellen Daten haben die Erwartungen der EZB und der Märkte hinsichtlich des Inflationsdrucks in der Wirtschaft übertroffen. Die jüngsten Datenveröffentlichungen zeigen einen Anstieg des Lohnwachstums auf 4,7% im ersten Quartal 2024 gegenüber 4,5% im vierten Quartal 2023, entgegen den Erwartungen eines Rückgangs. In der jüngsten Umfrage der Europäischen Kommission ist der Anteil der Unternehmen, die einen Arbeitskräftemangel als Produktionshindernis angeben, erneut gestiegen. Dies ist ein recht starker Indikator für das Wachstum der Tariflöhne, dem Schlüsselindikator der EZB für die Lohnentwicklung. Auch die HVPI-Inflation im Euroraum war im Mai deutlich höher als erwartet. Die Kerninflation im Euroraum war deutlich höher als erwartet. Die Dienstleistungsinflation stieg von 3,7% im April auf 4,1% im Mai. Dabei handelt es sich nicht nur um einen Basiseffekt: Auf saison- und arbeitstäglich bereinigter Basis stieg die Teuerung im Dienstleistungssektor im Mai um 0,5%. Das ist etwa doppelt so viel, wie die EZB zur Erreichung ihres Ziels benötigt. Umfragen deuten darauf hin, dass die Dienstleistungsinflation mit der Zeit zurückgehen wird, was sich aber noch nicht in den tatsächlichen Inflationsdaten widerspiegelt. Schließlich steigen die Transportkosten aus China wieder rapide an, was die Kerninflation bei den Waren ebenfalls nach oben treiben dürfte. Schließlich haben auch die Gaspreise wieder angezogen. Nach einer langen Phase der Disinflation nimmt der Inflationsdruck bei allen Komponenten wieder zu.
Diese Inflationsentwicklungen spiegeln sich in den heutigen Revisionen der EZB-Prognosen wider. Im Vergleich zu den Projektionen vom März wurde die Inflation für 2024 und 2025 nach oben korrigiert. Diese Revision fiel stärker aus als vom Konsens der Ökonomen erwartet. Dennoch geht die EZB weiterhin von einer Inflationsrate von 1,9% im Jahr 2026 aus, die von der aktuellen Zinsentwicklung am Markt abhängt. Dies bedeutet, dass die EZB weiterhin davon ausgeht, dass die aktuelle Markterwartung mehrerer Zinssenkungen auf 2,5% zu einer leicht unter dem Zielwert liegenden Inflation führen wird. Während die Prognosen heute nach oben korrigiert wurden und damit eine größere Inflationspersistenz in den Daten widerspiegeln, zeigt die Prognose für 2026 weiterhin, dass die Inflation unter der Annahme mehrerer weiterer Zinssenkungen im Jahr 2026 bei 1,9% liegen wird. Dies steht im Einklang mit mehreren weiteren Zinssenkungen nach der heutigen Sitzung. Die Prognosekorrekturen zeigen jedoch, dass eine weitere unerwartete Stärke der Dienstleistungsinflation weitere Zinssenkungen der EZB erheblich verlangsamen oder sogar zunichtemachen könnte.
Auf der Pressekonferenz zeichnete Präsidentin Lagarde ein gemischtes Bild der Daten. Sie wies darauf hin, dass die Kerninflation in den HVPI-Inflationsdaten für April weiter zurückgegangen sei. Sie betonte auch, dass die Unternehmen beginnen, das Lohnwachstum in ihre Gewinnmargen einfließen zu lassen. Schließlich betonte sie, dass die heutige Entscheidung auf dem Vertrauen des EZB-Rats in die Prognosen beruhe. Wie wir heute gesehen haben, können sich die Prognosen jedoch erheblich ändern, wenn die EZB mit erheblichen positiven Überraschungen beim Lohnwachstum und bei der Dienstleistungsinflation konfrontiert wird.
Ob die EZB in diesem Jahr weitere Zinssenkungen vornehmen wird, hängt daher von den künftigen Prognosen ab. Es ist jedoch schwierig zu sagen, wie sich die Prognosen der EZB in Zukunft entwickeln werden. Präsidentin Lagarde hat zwar gesagt, dass der Weg nach vorne holprig sein wird, aber diese Prognosen werden sich mit den zukünftigen Daten ändern.
Ich glaube, dass die EZB in diesem Jahr noch zwei weitere Zinssenkungen vornehmen wird. Die Hürde für weitere kurzfristige Überraschungen bei den Prognosen ist hoch. Die Märkte sollten aber keine Erwartungshaltung in Bezug auf die Prognosen haben. Alle weiteren Zinssenkungen in diesem Jahr werden wahrscheinlich negativ ausfallen. Es wird keine Forward Guidance geben. Dieser rein datengetriebene Ansatz bedeutet aber auch, dass die EZB leicht weniger als zwei Zinssenkungen vornehmen könnte. Vielleicht sehen wir nur eine weitere Zinssenkung gegen Ende des Jahres, wenn die Inflation viel hartnäckiger bleibt als erwartet.
Von Tomasz Wieladek, Chief European Economist bei T. Rowe Price