Die EZB wird ihren Leitzins bei ihrer Sitzung nächste Woche um 25 Basispunkte senken. Angesichts der jüngsten Entwicklungen bei den vergangenheitsbezogenen und zukunftsorientierten Daten wird die Entscheidung für eine Senkung ungewöhnlich leicht fallen. Zwar stieg die Dienstleistungsinflation im April, dies war jedoch auf Sonderfaktoren zurückzuführen, die mit dem Zeitpunkt von Ostern, den Flugpreisen und Pauschalreisen zusammenhingen. Die jüngsten Daten deuten darauf hin, dass sich diese Faktoren im Mai wieder ausgeglichen haben. Die Industrieproduktion hat sich ebenfalls stärker als erwartet erholt, was jedoch wahrscheinlich auf Vorzieheffekte vor der Einführung höherer US-Zölle zurückzuführen ist. Da es sich hierbei um Kreditnachfrage aus der Zukunft handelt, dürfte die Industriekonjunktur in der zweiten Jahreshälfte nachlassen.
Die EZB hat ihre Steuerungsfunktion auf ihrer Sitzung im April angepasst und legt nun mehr Gewicht auf vorausschauende Inflationsindikatoren wie die ausgehandelten Löhne. Die ausgehandelten Löhne sind im ersten Quartal 2025 von 4,1% im vierten Quartal 2025 auf 2,4% gesunken. Der Lohnindikator der EZB deutet darauf hin, dass die ausgehandelten Löhne bis zum vierten Quartal 2025 auf 1,5% sinken werden. Dieses Lohnwachstum steht viel eher im Einklang mit einer Inflation um 1% und damit deutlich unter dem Zielwert der EZB. Gleichzeitig haben hochfrequente Umfrageindikatoren für das Wirtschaftswachstum negativ überrascht. Die PMIs für den Dienstleistungssektor sind den zweiten Monat in Folge negativ ausgefallen. Diese Indikatoren deuten darauf hin, dass die Wirtschaft der Eurozone in der zweiten Jahreshälfte auf einen Wachstumsstillstand zusteuert.
Bei dieser Sitzung wird die EZB den sogenannten „Neutralen Zinssatz“ erreicht haben, d. h. den Leitzins, bei dem die Geldpolitik die Wirtschaftstätigkeit weder unterstützt noch hemmt. Ist dies ein Grund zu der Annahme, dass die EZB ihren Zinssenkungszyklus bald beenden wird? Wir halten dies für unwahrscheinlich. Die EZB könnte die Zinsen im Juli unverändert lassen, um die wirtschaftlichen Folgen der US-Zölle für die europäische und die Weltwirtschaft abzuwarten. Die Wirtschaftsdaten dürften jedoch in diesem Jahr sowohl hinsichtlich der Konjunktur als auch der Inflation weiterhin negativ überraschen. Es ist wahrscheinlich, dass die EZB letztendlich zu dem Schluss kommt, dass eine akkommodierende Geldpolitik erforderlich ist, um ein deutliches Unterschreiten der Inflationsziels zu verhindern. Dennoch wird die EZB vorsichtig sein, die Zinsen unter 1% zu senken, es sei denn, die Weltwirtschaft steuert eindeutig auf eine Rezession zu. Wir gehen daher davon aus, dass die EZB die Zinsen in diesem Jahr weiter senken wird, bis sie 1,25% erreichen, auch wenn der Zinssenkungszyklus im Juli pausiert.
Von Tomasz Wieladek, Chief European Economist bei T. Rowe Price