Im Überblick
- Das Quantitative Easing ist endgültig vorbei. Jetzt müssen sich Investoren in den Industrieländern an höhere Zinsen gewöhnen.
- Der Geldmarkt mag noch immer beliebt sein. Wenn die Zinsen aber nicht mehr steigen, gibt es bessere Alternativen.
- Die „Magnificent Seven“ haben 2023 für hohe Aktiengewinne gesorgt. 2024 könnten auch andere Sektoren zulegen.
Wie schätzen Sie Ihre Portfolios zum Jahreswechsel ein?
Das Schlüsselwort heißt für mich Normalisierung. Es kommt eine Zeit, in der Inflation und Zinsen vermutlich „normaler“ sein werden. Das Quantitative Easing ist vorbei, und in den Industrieländern müssen wir uns allmählich an Realzinsen von 1% bis 2% gewöhnen – so viel wie seit über zehn Jahren nicht mehr.
Normalisieren wird sich auch die Korrelation zwischen Aktien und Anleihen. Wie die folgende Abbildung zeigt, lagen in 33 der letzten 46 Jahre beide Assetklassen im Plus. Nur einmal, 2022, lagen beide gleichzeitig im Minus. Die diesjährige Performance spricht aber dafür, dass sich die Korrelationen jetzt wieder normalisieren.
Nach dem Einbruch 2022 normalisieren sich die US-Märkte wieder
Korrelation von Aktien- und Anleihenerträgen (%), 1977 bis 2023
Und wie steht es um den Geldmarkt? „T-Bill and Chill“ hat sich 2023 bislang gelohnt. Sollte man jetzt umdenken?
Sehr viel Geld wartet darauf, angelegt zu werden. Ende September 2023 waren etwa 5,6 Billionen US-Dollar am Geldmarkt investiert. Wegen der steigenden Zinsen in den Industrieländern hat man gut damit verdient. Doch wer so viel am Geldmarkt investiert, sollte einmal über Diversifikation nachdenken.
Die Investmentexperten von Capital Group analysieren gern Vergangenheitsdaten. Zwar kann niemand von uns die Zukunft vorhersagen, doch kann man aus der Vergangenheit lernen und Anhaltspunkte dafür gewinnen, wie es weitergehen könnte. In den vier letzten Erhöhungszyklen der Fed (von 1977 bis 2023) legten internationale Aktien in den zwölf Monaten nach der letzten Zinserhöhung im Schnitt um 14% zu. Am Geldmarkt verdiente man hingegen nur 4,5%, und Anleihen lagen irgendwo dazwischen. Wenn sich die Geschichte wiederholt, werden die Geldmarktrenditen fallen, sobald die Zinsen nicht mehr steigen. Dann wäre es klüger, in Aktien und Anleihen umzuschichten.
Aktien und Anleihen haben nach dem Leitzinsmaximum den Geldmarkt geschlagen
Stand 30. September 2023. Durchschnittlicher kumulierter Ertrag in US-Dollar in den ersten zwölf Monaten nach der letzten Erhöhung der Federal Funds Target Rate in den letzten vier Zinserhöhungszyklen. Die 12-Monats-Zeiträume endeten im Februar 1995, Mai 2000, Juni 2006 und Dezember 2018. Internationale Aktien gemessen am MSCI ACWI (Net Dividends Reinvested). Internationale Anleihen gemessen am Bloomberg Global Aggregate Total Return Index. Geldmarktanlagen gemessen am Bloomberg US Treasury Bills 1– Month Total Return Index.Fed: US Federal Reserve. Quellen: Capital Group, FactSet
Hat man am Aktienmarkt vielleicht schon das Beste verpasst?
2023 war für den S&P 500 bislang ein gutes Jahr. Bis zum 8. November hat er um 14,6% zugelegt.1 Ein Großteil der Gewinne entfiel aber auf die sogenannten Magnificent Seven: Alphabet, Amazon, Apple, Meta Platforms, Microsoft, NVIDIA und Tesla. Abgesehen von diesen sieben Titeln sind die Bewertungen recht normal. Manche Sektoren haben dieses Jahr sogar verloren, weil sich immer wieder einzelne Sektoren der US-Wirtschaft in der Rezession befanden.
So war der Wohnimmobiliensektor 2022 sehr schwach, weil die Fed die Zinsen stark anhob. Jetzt scheint er sich wieder zu erholen. Aber dafür befinden sich andere Immobilienmarktsegmente weiter im Abschwung, etwa Gewerbeimmobilien.
Die Halbleiterindustrie wiederum hatte 2022 mit Lieferkettenproblemen und einer geringeren Chipnachfrage zu kämpfen. Halbleiteraktien brachen daher ein. 2023 hat sich der Markt dann stabilisiert. Die Nachfrage kehrte zurück, und Halbleiterwerte hatten großen Anteil an der weltweiten Markterholung.
Im Chemiesektor finden wir Hinweise darauf, dass die Lagerbestände nicht weiter fallen, und auch in anderen Industriebranchen ist es ähnlich. Die Botschaft ist also, dass Aktien noch immer viel zu bieten haben. Wer bislang abgewartet hat, könnte von Aktienanlagen in nächster Zeit profitieren.
Welche Sektoren finden Sie besonders interessant?
Hervorheben möchte ich Aktien mit hohen Dividenden. Mit ihnen konnte man 2022 Verluste abfedern, aber 2023 blieben sie hinter dem Markt zurück. Zum Teil lässt sich das mit den steigenden US-Staatsanleihenrenditen erklären, die vielen Anleihen-Proxys2 geschadet haben.
Manche dividendenstarke Aktien wurden meiner Meinung nach aber zu Unrecht abgestraft. Ich denke an Titel mit steigenden Dividenden, vor allem, wenn sie für ihre regelmäßigen Dividendenzahlungen in der Vergangenheit bekannt sind. Nach unserer Analyse stammen Aktien mit steigenden Dividenden meist von Qualitätsunternehmen mit einer guten Investitionspolitik. In der Regel steigen auch deren Gewinne und freie Cashflows, weil das letztlich die Voraussetzung für höhere Dividenden ist. Aktien mit steigenden Dividenden sind daher meist weniger volatil und liegen mit hoher Wahrscheinlichkeit vor dem Markt. Da aber viele dieser Titel ebenfalls abgestraft wurden, als dividendenstarke Aktien generell fielen, verdienen sie jetzt sicherlich einen genaueren Blick.
Das bedeutet aber auch, dass die Aktienmarktrallye an Breite gewinnen kann. Früher hielt sich die Marktbreite beim ersten Aufschwung nach einer Rezession meist in Grenzen, doch dann folgten stabile Gewinne des Gesamtmarktes. Chancen bieten also nicht nur die Magnificent Seven.
Auf Sektorebene habe ich mich mit unseren Analysten für Industrie, Gesundheit und Energie ausgetauscht. Die Kombination aus niedrigen Bewertungen und knappem Angebot macht viele amerikanische und europäische Energieunternehmen interessant. Aussichtsreich ist aber auch die amerikanische Medizintechnikbranche, weil sie 2023 trotz erneut beeindruckender Innovationen hinter dem Markt lag.
Weiter große Chancen mit dividendenstarken Aktien
KGV von Aktien mit hohen Dividenden und dem S&P 500 Index im Vergleich (%)
Und wie steht es um innovative neue Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI)?
Wir halten Innovationen für entscheidend für den langfristigen Anlageerfolg. Sie sorgen für Wachstum und Produktivitätsgewinne. Wenn die Produktivität steigt, kann dies die Inflation dämpfen. Unsere Anlageexperten analysieren KI weiterhin sehr genau. Bis jetzt sind sie hier äußerst optimistisch.
Immer mehr Unternehmen weltweit nutzen generative KI für ihre digitale Transformation und um durch veränderte Prozesse die Produktivität zu steigern.
Ich denke hier etwa an einen internationalen Getränke- und Spirituosenkonzern mit Sitz in Europa. Fünf Jahre lang hat das Unternehmen seine Geschäftsdaten in ein maschinenlesbares Digitalformat übertragen. Dank generativer KI kann es diese Daten jetzt nutzen, um die Umsätze innerhalb und außerhalb der Gastronomie in Sekundenschnelle zu analysieren. Dadurch erfährt es in Echtzeit, was in einen bestimmten Laden oder ein bestimmtes Restaurant geliefert werden muss. Das Ergebnis? Mit dem gleichen Budget kann der Konzern jetzt gleichzeitig 15 Markenkampagnen durchführen. Früher waren es nur fünf.
Vor nicht allzu langer Zeit traf ich mich auch mit dem Chief Technology Officer (CTO) einer asiatischen Versicherung, um über die digitale Transformation zu sprechen. Der Versicherer hat eine App für seine Kunden entwickelt, mit der er nicht nur Neukunden anwerben und Informationen über Bestandskunden gewinnen kann. Mit der App können Kunden außerdem ihre Portfolios umschichten und sogar Schadensmeldungen vornehmen. Entscheidend ist dabei, dass die App einen „Co-Piloten“ auf Basis generativer KI3 nutzt, und deshalb interaktiv und iterativ lernen kann. Eine wichtige Frage in unserem Meeting mit dem CTO war, wie er die Stakeholder von Investitionen in solche technologischen Initiativen überzeugt hat. Seine Antwort: Mit solchen Investitionen muss man mindestens 20% verdienen. Möglich würde das durch weitgehend unveränderte operative Kosten bei einem niedrigen zweistelligen Anstieg der Versicherungsprämien.
Von Winnie Kwan, Aktienportfoliomanagerin bei Capital Group
1 Quelle: S&P.
2 Anleihen-Proxys sind Aktien mit stabilen Cashflows und damit auch stabilen Dividenden. Ähnlich wie Anleihen liefern diese Aktien oft sichere und berechenbare Erträge.
3 Damit ist ein klassisches Interface gemeint, das die Nutzer mit Sprachmodellen bei unterschiedlichen Aufgaben unterstützt. Letztlich hilft die KI beim gesamten Workflow einer App.