Gestern Abend gaben die Spitzen der deutschen Konservativen (CDU/CSU) und der Sozialdemokraten (SPD) ihren ersten großen Maßnahmenvorschlag aus den Koalitionsverhandlungen ab. Ihre Ankündigung markiert nicht weniger als einen grundlegenden Wandel in Deutschlands finanzpolitischem Ansatz.
Auf Wiedersehen, Schuldenbremse
Der Leitantrag würde die verfassungsmäßige Schuldenbremse, die einen ausgeglichenen Bundeshaushalt erzwingen sollte, de facto aushöhlen. Der neue Plan sieht vor, dass alle Verteidigungsausgaben, die über 1% des BIP hinausgehen, von der Regel ausgenommen werden. Es gäbe keine Obergrenze - das heißt, der Verteidigungshaushalt wäre im Prinzip unbegrenzt.
Die Gründe dafür sind politisch verständlich. Angesichts wachsender geopolitischer Risiken und sich rasch verändernder transatlantischer Beziehungen wünscht sich die neue deutsche Regierung mehr Flexibilität bei den Militärausgaben. Aber die Abkehr von einer festen Verpflichtung zur Haushaltsdisziplin hat Konsequenzen. Zwei Hauptrisiken stechen hervor:
- Refinanzierungskosten: Im Moment profitiert Deutschland finanziell von seiner vergleichsweise niedrigen Staatsverschuldung in zweierlei Hinsicht. Erstens bedeutet es, dass weniger Zinsen für einen bescheidenen Schuldenstand gezahlt werden müssen. Zweitens wird Deutschland als sicherer Schuldner angesehen, was die Anleiherenditen niedrig hält. Andere Länder der Eurozone mit einer höheren Schuldenlast - wie Frankreich und Italien - zahlen Risikoaufschläge. Stiege die deutsche Staatsverschuldung über ein neues Sondervermögen drastisch an, könnte Deutschlands Finanzierungsvorteil schnell schwinden.
- Systemische Risiken in der Eurozone: Die Abkehr von der Verpflichtung zu einem ausgeglichenen Bundeshaushalt könnte auch einen Präzedenzfall für andere Länder des Euroraums schaffen und sie dazu ermutigen, die Kreditaufnahme zu erhöhen. Eine faktische Abkehr von den Maastricht-Kriterien zugunsten eines europäischen Schuldenwettlaufs könnte große systemische Risiken für die Währungsunion mit sich bringen.
Hallo, Sondervermögen
Die zweite wichtige Ankündigung gestern Abend war die Schaffung eines 500 Milliarden Euro schweren Sondervermögens zur Finanzierung von Infrastrukturinvestitionen. Die Einrichtung eines Sondervermögens ermöglicht es der deutschen Regierung, Mittel zu beschaffen, ohne die Schuldenbremse zu verletzen – die verfassungsrechtliche Vorgabe, wonach der Bundeshaushalt grundsätzlich ausgeglichen sein muss. Ein Sondervermögen ist dabei ein „off-balance-sheet“-Budget, das einem klar definierten Verwendungszweck dient. Genau das tat die Ampelregierung 2022 als Reaktion auf Russlands Invasion der Ukraine: Nach der angekündigten Zeitenwende stellte Kanzler Scholz ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Modernisierung der Bundeswehr bereit.
Das neue Sondervermögen in Höhe von 500 Milliarden Euro würde die Initiative von Scholz jedoch in den Schatten stellen. Zum Vergleich: Es entspräche 11,6% des deutschen BIP (4,3 Billionen Euro). Aber die Übernahme einer solch massiven Schuldenlast wäre natürlich nicht zum Nulltarif zu haben.
Was würde es kosten?
Die Zeiten negativer Zinsen sind lange vorbei. Zwar bedeutet ein Sondervermögen nicht, dass Deutschland den gesamten Betrag sofort aufnimmt – es funktioniert eher wie eine Standby-Kreditlinie, die nach und nach abgerufen werden kann. Doch wie viel Zinsen müsste Deutschland zahlen, wenn die gesamte Anleihe in Höhe von 500 Milliarden Euro in Anspruch genommen würde?
Wenn wir von verschiedenen Zinssätzen ausgehen, ergibt sich folgendes Bild:
- Bei 2,1%: Der niedrigste verfügbare Zinssatz auf der Kurve der deutschen Staatsanleihen liegt derzeit bei 2,1% für einjährige Anleihen. Wenn Deutschland hypothetisch alles zu diesem Zinssatz aufnehmen könnte, würden sich die jährlichen Zinszahlungen auf 10,5 Milliarden Euro belaufen.
- Bei 2,5%: Eine realistischere Schätzung wäre wohl 2,5%, also die derzeitige Durchschnittsrendite für die ein-, fünf-, zehn- und dreißigjährigen deutschen Anleihen. Dies würde die jährlichen Zinskosten auf 12,5 Milliarden Euro erhöhen.
Zum Vergleich: Der Haushalt 2024 des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz belief sich auf ca. 11,1 Milliarden Euro. Und diese Schätzungen könnten immer noch zu konservativ sein - der Ausstieg aus der Schuldenbremse und die Ankündigung eines großen Sondervermögens könnten die Renditen deutscher Staatsanleihen und damit die Finanzierungskosten in die Höhe treiben, da die Investoren wahrscheinlich einen Risikoaufschlag aufgrund der höheren Verschuldungsquote verlangen könnten. Die Tatsache, dass die Renditen von Bundesanleihen heute Morgen nach den Ankündigungen von gestern Abend spürbar gestiegen sind, würde diese Annahme unterstützen.
Inflationsrisiken
Eine große Sorge ist die Inflation. Hunderte Milliarden Euro zusätzliche Staatsausgaben über ein neues Sondervermögen könnten die Inflation weiter anheizen. Das könnte wiederum die EZB zwingen, ihre Zinspolitik restriktiver zu gestalten, wodurch hohe Finanzierungskosten für Deutschland und andere Euro-Staaten länger anhalten könnten.
Fazit
Die deutsche Finanzpolitik steht an einem Wendepunkt. Die faktische Abschaffung der Schuldenbremse und die Schaffung eines Sondervermögens in Höhe von 500 Milliarden Euro sind für Investoren ein Gamechanger.
- Höhere Anleihebeträge könnten den Finanzierungsvorteil Deutschlands schmälern und die Renditen von Bundesanleihen in die Höhe treiben.
- Für die Eurozone könnte dies einen Präzedenzfall für andere Länder schaffen, ihre Verschuldung zu erhöhen, was die systemischen Risiken erhöht.
- Massive Infrastrukturinvestitionen könnten die Preisinflation hochhalten und die Zinssenkungen der EZB verzögern.
Eines ist klar: Investoren können sich von der deutschen Sparsamkeit und Haushaltsdisziplin verabschieden. Die Spielregeln haben sich geändert.
Von Dr. Wolfgang Bauer, Anleihefondsmanager bei M&G Investments
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