Es mutet an wie ein Déjà-vu-Erlebnis aus dem vergangenen Jahr: ein holpriger, Sondereffekten geschuldeter Jahresauftakt in den USA, gefolgt von einer voraussichtlich kräftigen US-Konjunktur-Beschleunigung im zweiten Quartal. Zwar ist sie immer noch Wachstumsmotor, doch scheint die US-Konjunktur mit Blick auf das Gesamtjahr (u. a. durch die Dollarstärke) allmählich an Schwung zu verlieren. Dieser Entwicklung trug zuletzt auch der Internationale Währungsfonds (IWF) Rechnung, indem er für 2015 ein globales Wirtschaftswachstum von 3,5 % prognostizierte. Die Weltkonjunktur dürfte zunehmend aber mehr von Japan und insbesondere von Europa getragen werden. So schien es auch wenig verwunderlich, dass die US-Notenbank (Fed) im Rahmen ihres Kommuniqués vom März 2015 das Schlüsselwort „Patience“ (Geduld) wegließ, um sich im aktuellen Konjunkturumfeld volle Flexibilität in beide Richtungen zu erhalten.
Auf der anderen Seite des Atlantiks fährt die Europäische Zentralbank (EZB) ihr „Quantitative Easing“-Programm (Quantitative Lockerung) weiter aus: Stand 17. April 2015 hat sie im Rahmen ihres Kaufprogramms für den öffentlichen Sektor (PSPP) Anleihen im Wert von 73,3 Mrd. Euro gekauft. Inzwischen weisen über 70 % aller ausstehenden Bundesanleihen eine negative Rendite auf. Im Hinblick auf das Laufzeitenspektrum wurden von den Peripheriestaaten hauptsächlich Anleihen mit langer Restlaufzeit erworben. Dagegen zeigt sich bei den Kernanleihen das umgekehrte Bild – vermutlich auch, weil die Nachfrage der EZB in diesen Segmenten auf ein geringes Angebot stieß. Der Klub der Länder mit Negativzinsen ist weiter gewachsen und es hat an Dramatik gewonnen. In den Niederlanden rentieren knapp 19 % aller ausstehenden Staatsschulden unterhalb des EZB-Einlagensatzes von -0,2 %. In Finnland sind es (Stand: 20. April 2015) etwa 25 %, in Deutschland fast 45 %(!).
In einer Welt, in der Investitionen in Staatsanleihen in weiten Teilen Verluste bedeuten – die Frage scheint lediglich vor oder nach Abzug der Inflation –, geht die Suche nach realen Werten weiter. So dürfte insbesondere die Berichtssaison an Aufmerksamkeit gewinnen. Was die US-Firmen betrifft, ist gesunde Skepsis angebracht, während in Europa das bessere Wachstum, der niedrige Ölpreis und der schwache Euro-Wechselkurs Raum für weitere, positive Überraschungen lassen – das zeigen auch die „Flow of Funds“-Statistiken, wonach Europa in der Gunst der Anleger weiter steigt.
Stefan Scheurer, Vice President, Global Capital Markets & Thematic Research, Allianz Global Investors
PDF-Download: Kapitalmarktbrief - Mai 2015