Was ist geschehen?
Die Bilder der gestrigen Abendnachrichten waren ein krasser Gegensatz: Auf der einen Seite fielen sich australische Familien in die Arme, als das Land endlich wieder seine Grenzen öffnete. Auf der anderen Seite schockte der russische Präsident Wladimir Putin die internationale Gemeinschaft, indem er die Unabhängigkeit zweier Separatistenregionen in der Ukraine anerkannte und sein Militär anwies, zur „Friedenssicherung“ in den Donbass vorzudringen.
Die begleitende Fernsehansprache von Herrn Putin war lang und emotional. Am bedrohlichsten für die internationale Ordnung war die Tatsache, dass er den Status der Ukraine als unabhängiger Staat in Frage stellte. Dies kommt einem Zurückdrehen der Geschichte gleich und wirft mit Blick auf andere Länder der ehemaligen Sowjetunion Sorgen auf. Kurzfristig dürfte das Hauptrisiko darin liegen, dass die Separatisten im Donbass mit der stillschweigenden Unterstützung des russischen Militärs militärisch aktiv werden. Dies könnte zu einer unerwünschten Eskalation und einer direkten Konfrontation zwischen ukrainischen und russischen Streitkräften führen.
Die erste Reaktion der USA war eher zurückhaltend: Joe Biden kündigte sehr lokale Sanktionen gegen den Donbass an und untersagte US-Personen und -Unternehmen, dort Geschäfte zu machen und zu investieren. Der US-Präsident will Putin offenbar keinen Grund für ein noch aggressiveres Vorgehen liefern. In dieser Hinsicht scheint seine langjährige Erfahrung in der Außenpolitik und im Umgang mit Russland positiv zu sein. Es bleibt abzuwarten, ob das angekündigte Gipfeltreffen zwischen US-Außenminister Antony Blinken und dem russischen Außenminister Sergej Lawrow in dieser Woche noch zustande kommt. Ein stärkeres militärisches Vorgehen würde ein solches Treffen unwahrscheinlicher machen.
Auch bei den Staats- und Regierungschefs der EU scheint weitgehend Einigkeit hinsichtlich Sanktionen zu bestehen, trotz der recht unterschiedlichen Abhängigkeiten von russischem Gas und der wirtschaftlichen Folgen eines weiteren Anstiegs der bereits sehr hohen Gaspreise.
Was bedeutet die Krise für die Asset Allocation?
Bereits im vierten Quartal 2021 hat AllianzGI mit Blick auf die Multi-Asset-Strategie eine vorsichtigere Haltung eingenommen. Dies beruhte vor allem auf der Einschätzung, dass die internationalen Zentralbanken die Geldpolitik erst spät an das Inflationsrisiko angepasst haben. Darüber hinaus betrachteten wir die Situation in der Ukraine bereits damals als ein nicht zu vernachlässigendes Extremrisiko, weshalb eine „neutral-plus“ Haltung gegenüber Aktien, eine vorsichtige Haltung gegenüber Anleihen und eine positive Einstellung gegenüber Rohstoffen eingenommen wurde. Mit der Eskalation im Donbass wurde nun das Aktienengagement auf neutral gesetzt; Gold und US-Treasuries hingegen werden als sichere Häfen höher gewichtet.
Auch Marktzyklusindikatoren unterstützen für risikobehaftete Vermögenswerte in den letzten Wochen den Übergang von einer positiven zu einer sehr viel vorsichtigeren Haltung. Einzige bemerkenswerte Ausnahme hiervon ist der britische FTSE, der im positiven Bereich bleibt.
Zusammenfassend haben wir somit mit Blick auf das Assetklassen-Exposure eine deutlich vorsichtigere Position eingenommen: Das Engagement in risikogehafteten Vermögenswerten wurde in der Breite reduziert und sichere Häfen, einschließlich Bargeld, aufgestockt. Die Märkte dürften zunächst recht volatil bleiben. Rohstoffe sind die einzige Anlageklasse, für die wir derzeit sehr positiv gestimmt sind: Sie profitieren einerseits vom Abebben der Omikron-Welle sowie der erhöhten Inflation, andererseits von der Ungewissheit um die Situation in der Ukraine.
Die Aktienmärkte werden wahrscheinlich herausfordernd bleiben und haben sich mehr auf die Eskalation in der Ukraine konzentriert als auf die jüngsten Ankündigungen der Zentralbanken. Für eine nachhaltige Erholung bedarf es wohl sehr solider Gewinnmeldungen und einer Abkühlung der Lage im Donbass. Staatsanleihen schließlich dürften nur so lange ein sicherer Hafen sein, wie die Krise um die Ukraine anhält. Mittelfristig gehen wir weiterhin davon aus, dass die Zentralbanken ihre Geldpolitik aufgrund höherer Inflationsdaten normalisieren werden, was sich negativ auf die Anleihemärkte auswirken wird. Letztlich wird damit wohl alles von Putins nächstem Schritt abhängen.
Gregor Hirt, Global CIO Multi Asset, AllianzGI