Die Europäische Zentralbank (EZB) hinkt bei der Normalisierung ihrer Geldpolitik weit hinterher und darf mit der Anhebung der Zinssätze nicht länger warten. Unter ihrer Präsidentin Christine Lagarde sollte die EZB daher einen aggressiven Ton anschlagen und endlich handeln – und zwar mit einer ersten Zinserhöhung um 50 Basispunkte, im Unterschied zu den von den Märkten erwarteten 25 Basispunkten. Denn ist es schwer vermittelbar, den Sommer mit negativen Zinsen zu verbringen, wenn die Inflation in der Eurozone weiter ansteigt: Im Mai lag sie bei 8,6 Prozent gegenüber Vorjahr und der Höhepunkt ist noch nicht erreicht. Ein zusätzliches Argument für die EZB, ihre Entschlossenheit zu zeigen, ist die Schwäche des Euro gegenüber dem Dollar, der die Rohstoffpreise weiter in die Höhe treibt.
Den starken Rückgang der Inflationserwartungen in den letzten Wochen sollte die EZB nicht als Erleichterung des Drucks interpretieren, die Zinssätze schnell und kräftig anzuheben. Zwar ist der Fünf-Jahres-/Fünf-Jahres-Inflationsswap Mitte Juli auf 2 Prozent gefallen, nachdem er Anfang Mai ein Hoch von 2,50 Prozent erreicht hatte; 2 Prozent ist das Ziel der EZB und liegt in der Nähe des Niveaus, das vor der Invasion in der Ukraine erreicht wurde. Doch dieser Rückgang erscheint uns fragil. Er dürfte eher das Ergebnis von Marktmechanismen sein – die den Risiken einer Rezession aktuell eine höhere Bedeutung beimessen als denjenigen der Inflation – als das Resultat einer wirklichen Überzeugung, dass die Inflation bald wieder ein zielkonformes Niveau erreicht. Die Gefahr einer Entankerung der Inflationserwartungen ist nicht gebannt, daher darf die EZB nicht unvorsichtig werden.
Sollte die EZB noch länger mit der Zinswende warten, bestünde die Gefahr, dass das von ihr bevorzugte Konzept einer „Normalisierung“ der Geldpolitik durch einen Ansatz einer „restriktiven Geldpolitik“ ersetzt werden muss. Letzteres würde wahrscheinlich ein deutlich entschlosseneres Handeln erfordern.
Darüber hinaus wäre es begrüßenswert, wenn die EZB auch Einzelheiten zu dem auf der Dringlichkeitssitzung am 15. Juni angekündigten Anti-Fragmentierungsinstrument bekannt gäbe. Diese Ankündigung wurde von den Märkten sehr gut aufgenommen und führte zu einer Einengung der Spreads zwischen italienischen und deutschen Staatsanleihen von einem Hoch von 240 Basispunkte Mitte Juni auf 185 Basispunkte Anfang Juli.
Während Anleger noch auf Informationen zu den Einzelheiten und dem Umfang der Maßnahmen warten, ist nicht auszuschließen, dass sich EZB-Präsidentin Lagarde auf Statements hierzu beschränken wird. Derweil hat die Bundesbank bereits Vorbehalte gegen die Legitimität eines solchen Mechanismus geäußert. Es wäre jedoch naiv zu glauben, dass eine einfache Ankündigung ausreicht, um die Spreads in der Eurozone zusammenzuhalten. Sollte der geringste Zweifel an der Bereitschaft der Zentralbank bestehen, einen Mechanismus für potenziell unlimitierte Maßnahmen einzuführen, könnten die Märkte die Entschlossenheit der EZB testen. Ohne eine offizielle Bestätigung auf der nun anstehenden Sitzung ist daher das Risiko für eine Enttäuschung der Märkte groß, so dass die Spreads unter Druck geraten könnten.
Alles in allem dürfte die nächste EZB-Sitzung die Volatilität an den Anleihemärkten daher hoch halten. Nach der beeindruckenden Anleiherallye der letzten Wochen dürfte eine Anhebung um 50 Basispunkte in Verbindung mit einem deutlichen Statement der EZB die Renditen wieder nach oben treiben.
Franck Dixmier, Global CIO Fixed Income, Allianz Global Investors