- Wir erwarten für die anstehende EZB-Sitzung eine Zinserhöhung um 75 Basispunkte
- Angesichts des Inflationsniveaus und der Ungewissheit über die weitere Preisentwicklung besteht für die EZB ein geringeres Risiko darin, mehr zu tun, als weniger zu tun
- Zusätzlich erwarten wir sehr klare Äußerungen während der Pressekonferenz, die zu einer Aufwärtskorrektur der Markterwartungen hinsichtlich künftiger Zinsschritte beitragen könnten.
In der Geschichte der Europäischen Zentralbank (EZB) hat es noch nie eine derart große Diskrepanz zwischen Inflation und Geldpolitik gegeben. So lag der Preisanstieg in der Eurozone im August bei 9,1 Prozent gegenüber Vorjahr (Kernrate: 4,3 Prozent). Dies ist ein Beleg dafür, dass sich die Inflation in der Wirtschaft ausbreitet. Gleichzeitig liegen die kurzfristigen Zinsen bei null Prozent.
Die EZB vermochte es nicht, den Preisanstieg einzuschätzen und vorherzusehen, der auf den Covid-19-bedingten Angebotsschock und den durch den Krieg in der Ukraine verursachten schwindelerregenden Anstieg der Energiepreise folgte. Daher hat sie die Normalisierung ihrer Geldpolitik stark herausgezögert. Dies stellt die Notenbank nun vor ein gravierendes Glaubwürdigkeitsproblem. Es geht für sie darum, zu ihrem einzigen vertraglich vorgesehenen Mandat zurückzukehren: der Preisniveau-stabilität.
Auf dem Symposium in Jackson Hole am 27. August hatte Isabel Schnabel, Exekutivmitglied des EZB-Direktoriums, die Gelegenheit, die Dinge richtig zu stellen. Sie verkündete die Entschlossenheit der EZB, die Inflationserwartungen mit Nachdruck zu verankern, und betonte, dass es wahrscheinlich weniger riskant sei, mehr zu tun als weniger. Seitdem lassen die verschiedenen Reden der EZB-Ratsmitglieder erkennen, dass innerhalb des geldpolitischen Gremiums eine Debatte darüber im Gange ist, ob der nächste Zinserhöhungsschritt 50 oder 75 Basispunkte betragen soll.
Wir rechnen mit einer Leitzinsanhebung um 75 Basispunkte. Angesichts der Verzögerung bei der Normalisierung der Geldpolitik und der Schwäche des Euro, der gegenüber dem US-Dollar leicht unter der Parität liegt, ist unseres Erachtens ein derart großer Schritt notwendig.
Im Einklang mit den Ausführungen von Isabel Schnabel dürfte EZB-Präsidentin Christine Lagarde die anstehende Sitzung nutzen, um die Entschlossenheit der Zentralbank zu bekräftigen, zu ihrem Ziel der Preisniveaustabilität zurückzukehren. Christine Lagarde dürfte sich dabei an die in Jackson Hole geäußerte Botschaft der Federal Reserve halten: Die Bekämpfung der Inflation hat absolute Priorität, ungeachtet der Folgen für das Wirtschaftswachstum. Da die weitere Inflationsentwicklung vor allem aufgrund der Unsicherheiten im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine nicht absehbar ist, werden die Zentralbanken die Zinssätze trotz wirtschaftlicher Risiken auf ein hohes Niveau heben. Eine Änderung dieser Politik ist erst dann zu erwarten, wenn die Währungshüter sicher sind, dass sich die Inflation auf einem Pfad befindet, der mit ihrem Ziel der Preisniveaustabilität vereinbar ist.
Die bei der nächsten Sitzung ebenfalls anstehende Veröffentlichung der Wirtschaftsprognosen wird der EZB die Gelegenheit geben, diesen Ansatz zu bekräftigen. Die für 2023 erwartete Konjunkturabschwächung im Euroraum dürfte ihren geldpolitischen Kurs nicht beeinträchtigen.
Eine Zinserhöhung um 75 Basispunkte ist an den Finanzmärkten zu etwa 90 Prozent eingepreist und dürfte keine große Überraschung darstellen. Sehr klare Äußerungen zum Zinsentscheid, wie wir sie erwarten, könnten jedoch zu einer Aufwärtsrevision der Markterwartungen hinsichtlich künftiger Zinsschritte beitragen. Dies würde die Korrektur an den Anleihemärkten im Euroraum, die seit Anfang August zu beobachten ist, weiter anheizen. Für einen Wiedereinstieg in Anleihen der Eurozone erscheint es daher zu früh.
Franck Dixmier, Global CIO Fixed Income bei AllianzGI