Nachdem die Europäische Zentralbank (EZB) die Zinssätze seit Juli 2022 um insgesamt 425 Basispunkte erhöht hat, läuft sie nicht mehr auf Autopilot. Sie hat nun zwei Möglichkeiten: eine Zinspause einzulegen oder die monetären Bedingungen weiter zu straffen.
In der Vergangenheit konnten die Anleger durch die Analyse der sogenannten Forward Guidance der Bank Einblicke in die künftige Geldpolitik gewinnen. Die unsicherer gewordenen Aussichten haben die EZB jedoch mittlerweile veranlasst, auf Sicht zu fahren und von Sitzung zu Sitzung vorzugehen. Daher müssen wir uns die drei wichtigsten Parameter der Reaktionsfunktion der EZB ansehen.
- Die zugrundeliegende Inflation: Die Teuerungsrate ist mit zuletzt 5,3 Prozent gegenüber Vorjahr (August) immer noch zu hoch. Dieses Niveau ist umso besorgniserregender, als in der Eurozone eine Preis-Lohn-Schleife in Gang gesetzt wurde, während die Produktivitätszuwächse gleich null oder negativ sind. Jeder Anstieg der Löhne schlägt sich in den Lohnstückkosten nieder und wird von den Unternehmen überwälzt. Im Übrigen dürfte sich der Aufwärtstrend der Löhne – in Q1 rund 5 Prozent gegenüber Vorjahr – 2024 fortsetzen.
- Mittelfristige Inflationserwartungen: Auf der September-Sitzung werden neue Wachstums- und Inflationsprognosen bekanntgegeben. Es ist jedoch eine Aufwärtskorrektur der Inflationsprognose zu erwarten, die den jüngsten Anstieg der Ölpreise berücksichtigt.
- Funktionieren des monetären Transmissionsmechanismus: Die Geldpolitik funktioniert, die in diesem Sommer veröffentlichten Konjunkturdaten bestätigen die Verlangsamung der Wirtschaft in der Eurozone: Sowohl der Einkaufsmanagerindex für den Dienstleistungssektor als auch der für die Industrie lag im August unter dem Schwellenwert von 50, was auf eine schrumpfende Wirtschaftsaktivität hindeutet. Zudem hat sich die Kreditvergabe abgeschwächt, sowohl bei den privaten Haushalten (im Juli von zuvor 1,7 auf 1,3 Prozent gegenüber Vorjahr) als auch bei den Unternehmen (von 3 auf 2,2 Prozent).
Die Verlangsamung des Wachstums in der Eurozone sollte für die EZB jedoch noch nicht besorgniserregend genug sein, um eine Zinspause zu rechtfertigen, zumal die Inflation noch weit über dem Zielwert der EZB liegt. Ein weiterer beunruhigender Faktor für die Zentralbank ist ein allmählich schwindendes Marktvertrauen in die Fähigkeit der EZB, ihre Ziele zu erreichen: Die Inflationserwartungen liegen auf etwas erhöhten Niveaus (5-Jahres-Inflationsswap auf Sicht von fünf Jahren derzeit bei 2,60 Prozent).
Unseres Erachtens müssten die monetären Bedingungen daher weiter gestrafft werden. Wir erwarten, dass EZB-Präsidentin Christine Lagarde auf der September-Sitzung eine Zinserhöhung um weitere 25 Basispunkte ankündigen wird.
Die Märkte haben eindeutig verstanden, dass die Leitzinsen stärker angehoben und länger auf hohen Niveaus bleiben dürften als ursprünglich erwartet. Gleichwohl unterschätzen sie unseres Erachtens das Potenzial für künftige weitere Straffungsmaßnahmen: Derzeit gehen die Märkte zu 65 Prozent davon aus, dass es nur eine weitere Zinsanhebung um 25 Basispunkte in diesem Jahr geben wird. Daher scheinen nicht alle Investoren vorbereitet zu sein und weitere Zinserhöhungen könnte den im Sommer beobachteten Renditeanstieg noch verstärken.
Von Franck Dixmier, Global CIO Fixed Income, Allianz Global Investors