Nach dem Erfolg der rechtsextremen Parteien bei den EU-Wahlen im Juni hat der französische Präsident Emmanuel Macron vorgezogene Parlamentswahlen ausgerufen. Der erste Wahlgang findet am 30. Juni statt, eine Woche später folgt der zweite. Umfragen zufolge wird die Regierungspartei – die "Renaissance" von Präsident Macron – die Mehrheit verlieren, wenngleich der endgültige Wahlausgang ungewiss ist.
Die Finanzmärkte reagierten beunruhigt auf die Möglichkeit, dass die rechtsextreme Rassemblement national (RN) unter der Führung von Marine Le Pen eine Regierung bilden könnte. Der Euro fiel zunächst zwei Tage in Folge gegenüber dem Dollar, und der CAC 40 gab in den Tagen nach der Wahlankündigung um mehr als 6 % 1 nach. Infolge der Turbulenzen erreichte der Spread zwischen den Renditen 10-jähriger französischer und deutscher Staatsanleihen – ein Barometer für die Risikoprämie auf französische Staatsanleihen – den höchsten Stand seit Februar 2017 2. Ein hoher Anteil ausländischer Positionen macht französische Staatsanleihen verwundbar, und ein weiterer Anstieg der Spreads könnte weitreichende Auswirkungen auf den Euro haben.
Schon vor der Ankündigung hatte die Ratingagentur Standard & Poor's die Kreditwürdigkeit Frankreichs von AA auf AA- herabgestuft, weil sie befürchtete, dass die Schulden durch die höher als erwarteten Defizite in die Höhe getrieben würden. Die Aussicht auf eine populistische Regierung, die eine weitere Erhöhung der öffentlichen Ausgaben anstrebt, ist vor diesem Hintergrund entsprechend Gift für die Märkte. Und: Frankreich ist in den letzten zehn Jahren in Sachen Wirtschaftswachstum hinter anderen Ländern zurückgeblieben. Nach den Prognosen des IWF wird das Pro-Kopf-BIP in den kommenden fünf Jahren hinter dem der USA und Deutschlands zurückbleiben. Auch diese Entwicklung leistet einen Beitrag zur Erklärung der Wählerwanderungen, von denen Marine Le Pens Partei bei den EU-Wahlen profitieren konnte.
Wie geht’s weiter?
Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es drei mögliche Wahlausgänge:
- RN gewinnt eine absolute Mehrheit der Sitze in der Versammlung (unwahrscheinlich).
- RN gewinnt eine relative Mehrheit (am wahrscheinlichsten).
- Das Linksbündnis erhält eine relative Mehrheit (am unwahrscheinlichsten).
In den ersten beiden Fällen wäre Präsident Macron starkem Druck ausgesetzt, einen RN-Premierminister zu ernennen, obwohl RN-Chef Jordan Bardella erklärt hat, dass er das Amt ohne eine absolute Mehrheit nicht antreten würde.
Die Wirtschaftspolitik der RN entwickelt sich derweil weiter: Auf der Grundlage des Programms, das Le Pen bei ihrer Kandidatur für das Amt des Präsidenten im Jahr 2022 vorstellte, werden die Kosten für die politischen Maßnahmen der Partei auf 101 Milliarden Euro geschätzt 3. Die kurze Amtszeit von Liz Truss als britische Premierministerin hat gezeigt, dass es für Regierungen riskant sein kann, die Kreditmärkte ignorieren. Ihr Paket von nicht refinanzierten Steuersenkungen löste wirtschaftliche Turbulenzen aus. Auch in Frankreich besteht die Gefahr eines "Liz-Truss-Moments", bei dem die Märkte negativ auf eine neue, ausgabefreudige Regierung reagieren. Der frühere Präzedenzfall im Vereinigten Königreich könnte jedoch auch seine Vorteile haben: Die siegreiche Partei kann hieraus lernen und entsprechend vorsichtig seid. Die RN plant daher Reformen in zwei Phasen, um die Märkte zu einer Zeit zu beruhigen, in der Frankreich bereits mit einer hohen Staatsverschuldung zu kämpfen hat.
Einige wichtige Maßnahmen – wie die geplante Herabsetzung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre für einige Arbeitnehmer und die vorgeschlagene Mehrwertsteuersenkung auf Grundnahrungsmittel in einem Umfang von 7 Milliarden Euro – könnten sich verzögern. Die RN könnte ein Interesse daran haben, als moderate und verantwortungsbewusste Partei wahrgenommen zu werden, um ihre Chancen bei den Präsidentschaftswahlen 2027 zu erhöhen. Die Märkte halten die Politik des Linksbündnisses indes für noch bedenklicher. Dazu gehören die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer, die Erhöhung der Einkommenssteuer für die Spitzenverdiener und das "Einfrieren" der Preise für Grundnahrungsmittel und Energie.
Ein weiterer Unsicherheits-schürender Aspekt ist, dass in Frankreich selbst ohne Mehrheit im Parlament gemäß Artikel 49.3 der Verfassung ein Gesetz ohne Abstimmung verabschieden kann. Angesichts dessen besteht für Frankreich das Risiko, dass sich der Spread der Staatsanleihen weiter ausweitet – einige französische Anleihen werfen bereits mehr Rendite ab als portugiesische Anleihen mit niedrigerem Rating.
Die Hierarchiestruktur der europäischen Staatsanleihemärkte wird somit neu geordnet, da die Anleger die zugrunde liegenden Fundamentaldaten genau unter die Lupe nehmen. Im schlimmsten Fall wird Frankreich weiter herabgestuft und hat Schwierigkeiten, ausländisches Kapital anzuziehen. Goldman Sachs warnte bereits, dass die Staatsverschuldung des Landes 120 % des BIP erreichen könnte, wenn RN die Wahlen gewinnt.
Wir sehen ein Risiko, dass sich große institutionelle Anleger von französischen Staatsanleihen abwenden. Dies könnte weltweit zu erheblichen Umwälzungen führen.
Solide Fundamentaldaten bei französischen Unternehmen
Die Fundamentaldaten der französischen Unternehmen sind indes gut. Der Finanzierungszugang ist seit Anfang des Jahres einfacher geworden, aber die durch die vorgezogenen Wahlen entstandene Unsicherheit hat dazu geführt, dass eine französische Risikoprämie an die Unternehmen weitergegeben wurde. In der Woche nach der Ankündigung von Präsident Macron versiegte der Zustrom von Primäremissionen, da sich der Anstieg des Spreads in Frankreich auf die Finanzierungskosten der Unternehmen auswirkt.
Was die Aktien betrifft, so hat der Markt binnen einer Woche verloren, was er seit Jahresbeginn zugelegt hatte. Einige Titel (z. B. Technologieunternehmen und multinationale Konzerne) bleiben aufgrund des Umfangs ihrer global erwirtschafteten Umsätze von den Marktbewegungen relativ unberührt. Tatsächlich sind nur 19 % des französischen Index CAC 40 von der heimischen Wirtschaft abhängig. Dieser Anteil umfasst im Allgemeinen kleinere Unternehmen, deren Kredite im Inland gehalten werden. Deren Finanzierungskosten werden steigen, was ihren Rückgang auf dem Aktienmarkt erklärt. Auch der Bankensektor ist trotz seiner gesunden Fundamentaldaten betroffen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Anleger mit einer höheren Risikoprämie und Marktvolatilität in Frankreich rechnen sollten, die sich möglicherweise auf die gesamte Eurozone ausweiten könnte, wenn die Probleme in Frankreich hochkochen. In den kommenden Wochen und Monaten wird das politische Geschehen die Schlagzeilen und die Pläne der Marktteilnehmer beherrschen. Die politischen Programme der Hauptkandidaten werden intensiv geprüft werden, und eher ausgefallenere Wahlkampfversprechen – vor allem solche, die die das französische Defizit stark belasten würden – könnten zu Volatilitätsspitzen und steigenden Spreads führen.
Das Ausmaß und der Zeitpunkt dieser Volatilität lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt nur schwer vorhersagen. Sobald die politische Situation jedoch klarer wird, könnten sich angesichts der robusten Fundamentaldaten in vielen Fällen auch Möglichkeiten zur Aufstockung der französischen Portfolios ergeben. Dies dürfte insbesondere nach der ersten Runde der Wahlen am 7. Juli der Fall sein, mit potenziell attraktiven Einstiegspunkten, wenn die Zusammensetzung der Regierung und ihre Politik klarer werden.
Unsere Präferenz hinsichtlich Anlageklassen
- Wir bevorzugen weiterhin den US-Dollar. Jede Erinnerung an die europäische Staatsschuldenkrise ist für viele internationale Anleger ein rotes Tuch. Und obwohl die Daten aus dem Euroraum in letzter Zeit positiv überrascht haben – im Vergleich zu den schwächeren Daten aus den USA – halten wir an unserer Übergewichtung des Dollars gegenüber dem Euro fest, da er als Safe Haven gilt und von der positiven Zinsdifferenz profitiert.
- In punkto Aktien werfen wir einen Blick über den Ärmelkanal, genauer gesagt auf das Potenzial in Großbritannien. Das Land ist unterinvestiert und weist niedrige Bewertungen auf. Die anstehenden Wahlen dürften im Vergleich zu den Turbulenzen in anderen europäischen Ländern ein " Non-Event " sein. Ungeachtet einer größeren politischen Zuspitzung in Frankreich, die auf andere Länder der Eurozone übergreifen könnte, gewichten wir die Region jedoch nicht unter.
- Der Banksektor lässt sich wegen der Zinssätze in Betracht ziehen: Aufgrund einer konstruktiven Sicht auf die Wirtschaft der Eurozone, attraktiver Bewertungen und eines starken Ertragspotenzials halten wir weiterhin am europäischen Bankensektor fest. Die Banken befinden sich in einem Sweet Spot, da sie von Zinssätzen zwischen 2 bis 4 % profitieren. In den kommenden Wochen könnte es zu mehr Volatilität kommen, aber längerfristig bleiben wir zuversichtlich, was die Aussichten des Sektors angeht.
- Ausweitung der Spreads? Auf der Anleihenseite rechtfertigt die Ausweitung des 10-jährigen BTP-Bund-Spreads auf rund 150 Basispunkte als Folge der Ausweitung des OAT-Bund-Spreads unserer Ansicht nach noch keine starke Übergewichtung. Wir würden einen Spread von 200 Basispunkten als ein potenziell attraktives Niveau für den Aufbau langfristiger Positionen betrachten. Insgesamt bleiben wir in Multi-Asset-Portfolios bei unserer Long-Position in 10-jährigen US-Staatsanleihen.
- Gold zur Diversifizierung? Gold ist in Zeiten politischer und geopolitischer Spannungen eine offensichtliche Option. Der jüngste Preisrückgang könnte einen Wiedereinstieg in eine Anlageklasse mit erheblichem Diversifizierungspotenzial in einem anlageübergreifenden Umfeld ermöglichen, das derzeit wenig Diversifizierung bietet.
Von Gregor Hirt, Global Chief Investment Officer Multi Asset, AllianzGI
1 Financial Times, 14. Juni 2024 French stocks suffer worst week since 2022 over fears of populist poll win (ft.com)
2 Reuters, 18. Juni 2024 Stocks gain, US yields decline after retail sales data | Reuters
3 Institut Montaigne, Marine Le Pen | Présidentielle 2022 (institutmontaigne.org)