Neben wirtschaftlichen Faktoren bestimmen auch psychologische Einflüsse das Anlage- und Entscheidungsverhalten, so die Verhaltenswissenschaften. Eine Befragung der CFA Society Germany, des Berufsverbandes für Investmentmanager und professionelle Investoren mit rund 2.900 Mitgliedern, legt nun nahe: Ein Drittel der Finanzhäuser (32 Prozent) in Deutschland nutzt die Erkenntnisse der Verhaltenswissenschaften (Behavioural Science) bislang nicht. Der Verband befragte 127 Vorstände, Geschäftsführer und Senior Manager vornehmlich aus den Bereichen Asset Management und Banking. Die Ergebnisse wurden heute erstmals vorgestellt.
Nachholbedarf
Ziel der Untersuchung war es, mehr Erkenntnisse über den Stellenwert und die Anwendungsfelder der Behavioural Science-Forschung in deutschen Investmenthäusern zu gewinnen. Neun von zehn Teilnehmern (86 Prozent) stehen einer Integration von Modellen der Verhaltenswissenschaften positiv oder eher positiv gegenüber. Dies bezieht sich sowohl auf organisationsinterne Prozesse als auch auf Potenziale für Investmententscheidungen, Dienstleistungen und Produkte. Behavioural Finance-Ansätze, um menschlich-emotionalen Befangenheiten („Bias“) sowie Anomalien bei der Informationsverarbeitung entgegenzuwirken, kommen bei immerhin 38 Prozent der Arbeitgeber bereits zum Einsatz. Zu diesen Mustern zählen etwa „Overconfidence“, also das Überschätzen der eigenen (Prognose-)Kenntnisse hinsichtlich der Entwicklung der Märkte oder die Tendenz, verstärkt in Aktien heimischer Unternehmen zu investieren („Home Bias“).
In der operativen Umsetzung beschränkt sich der Instrumentenkasten jedoch zumeist auf Kunden- und Mitarbeiterbefragungen. Die wenigsten Institute nutzen sehr häufig oder häufig Behavioural Science-Werkzeuge zur Unterstützung von Investitionsentscheidungen (18 Prozent), zum Screening von Biases (15 Prozent) oder für A/B-Tests (10 Prozent). Lediglich 8 Prozent verfügen über entsprechende Labormöglichkeiten. Insgesamt deuten die Ergebnisse auf eine Diskrepanz zwischen der Bedeutung, die Finanzprofis dem Thema beiordnen und seiner Abdeckung in den Unternehmen hin. So nutzt jedes dritte Finanzhaus (32 Prozent) die Erkenntnisse der Verhaltensökonomie bislang überhaupt nicht und nur etwa ein Fünftel für das Risikomanagement, zur Konzeption neuer Finanzlösungen, für Apps und User Experience sowie für die Ausgestaltung und das Design von Informationskampagnen und -medien.
Einbindung in das Unternehmen
Fast zwei Drittel (61 Prozent) der befragten Führungskräfte schätzen ihre Kenntnisse verhaltenswissenschaftlicher Methoden als mittelmäßig oder sogar gering ein. Ob Behavioural Science organisatorisch als Querschnittsfunktion oder in eigenen Teams angelegt ist, obliegt individuell den Unternehmen. Auffällig ist jedoch, dass fast drei Viertel (70 Prozent) der Institute nicht über spezialisierte Einheiten mit entsprechender Expertise verfügen, die den methodischen Zugriff und die Anwendung von Behavioural Science verantworten. „Das Potenzial von Behavioural Science ist im Finanzsektor noch nicht ausgeschöpft“, so die Studienautoren Dr. Florian Wedlich, CFA und Dr. Martin Sauermann, CFA, die bei der CFA Society Germany die Arbeitsgruppe Behavioural Science leiten.
Ausblick: Zusätzliche Dynamik durch KI erwartet
Mit einer stärkeren Verbreitung der Behavioural Science in den nächsten Jahren rechnen drei von vier Finanzprofis (75 Prozent). Die Ergebnisse der Befragung sprechen dafür, dass verhaltensbezogene Faktoren dort mehr Berücksichtigung finden, wo der unternehmerische Nutzen psychologischer Denk- und Entscheidungsprozesse möglichst konkret und greifbar ist. „Die Einbeziehung der verhaltenswissenschaftlichen Lehre kann der Finanzbranche dabei helfen, Marktineffizienzen aufzudecken“, so Susan Spinner, CFA, Geschäftsführende Vorstandsvorsitzende der CFA Society Germany. Sie rechnet damit, dass - einher mit Trends bei moderner Datenanalyse und künstlicher Intelligenz sowie der Herausbildung neuer digitaler Angebote - auch fortschrittliche Verhaltenstechnologien selbstverständlicher in die Praxis integriert werden. Auf regulatorischer Ebene wird das Thema angesichts der Incentivierung bestimmter Verhaltensweisen („Nudging“) durch die Finanzindustrie und etwaiger (manipulativer) Techniken aufmerksam begleitet. „Alle Marktteilnehmer, auch solche mit langjährigen Erfahrungen im Finanzbereich, können unbewussten Verhaltensmustern oder Vorurteilen anheimfallen. Begrüßenswert wäre, wenn die Zukunft der Behavioural Science in der Finanzbranche dort liegt, wo sie einen Beitrag zur Finanzbildung und zur Verbesserung von Risikoeinschätzungen leistet“, schließt Susan Spinner.
Die Studie mit den wesentlichen Ergebnissen steht auf der Website des Verbands kostenfrei zum Download bereit.