Neue Zeitrechnung am Aktienmarkt

Warum es sich bei der gegenwärtigen Korrektur am Aktienmarkt nicht nur um eine vorübergehende Entwicklung handeln könnte, analysiert Ökonom Dr. Martin Hüfner in seinem aktuellsten Gastkommentar auf e-fundresearch.com. Economics | 17.06.2015 21:00 Uhr
Dr. Martin Hüfner
Dr. Martin Hüfner
Archiv-Beitrag: Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

So richtig leicht zu verstehen, ist die gegenwärtige Situation der Märkte nicht. Vier Monate gingen die Kurse an den Aktien- und Rentenmärkten steil nach oben. Dann plötzlich, ohne dass sich an den fundamentalen Faktoren etwas Größeres geändert hatte, brach die Entwicklung ab und die Kurse fielen. Was ist hier passiert? 

Man könnte es sich leicht machen und auf Griechenland verweisen. Aber die Probleme dort waren schon lange bekannt. Sie haben sich in den letzten Wochen nicht grundsätzlich geändert. Man könnte auch sagen, dass das eine der üblichen „technischen“ Korrekturen ist. Wenn die Kurse eine Zeitlang stark steigen, dann muss es auch einmal eine Pause geben. Nach diesem Modell müsste es spätestens im September wieder nach oben gehen. Der Anleger könnte sich zurücklehnen und einfach abwarten, bis die Kurse wieder steigen. 

Ich glaube, dass das zu einfach ist und dass mehr dahinter steht. Ist es nicht denkbar, dass sich das fundamentale Umfeld doch geändert hat, nur nicht so offensichtlich? Dass sich zum Beispiel die Zeit der Krisenbewältigung, die die Hausse so stark genährt hatte, dem Ende nähert? Dann kann man sich nicht einfach darauf verlassen, dass nach einer Übergangszeit alles so wie bisher weitergeht. Dann würde eine neue Welt für die Märkte beginnen. 

Schauen wir uns die Struktur der bisherigen Entwicklung des DAX seit März 2009 an (siehe Graphik). Da kann man zwei Phasen unterscheiden. Die eine ging von 2009 bis 2011. Hier waren die Aktienkurse im Wesentlichen von der Konjunktur getrieben. Das reale BIP stieg nach der Rezession stark an.

Zum Vergrößern bitte auf den Chart klicken!
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Im Jahr 2011 begann eine neue Phase. Das Wirtschaftswachstum ließ nach und reichte nicht mehr, um die Kurse zu treiben. Dafür wurde die Geldpolitik immer expansiver. Die Europäische Zentralbank senkte die Zinsen. Sie flutete die Märkte mit Liquidität. Wir hatten eine Liquiditätshausse. Die dauert zwar noch an. Die EZB kauft immer noch Wertpapiere. Sie verliert aber an Kraft. Zum einen weil die Amerikaner langsam aus der ultralockeren Geldpolitik aussteigen und jetzt auch noch die Zinsen erhöhen wollen. Zum anderen weil der Instrumentenkasten der EZB leer ist. Sie kann die bisherigen Programme zwar weiterführen. Sie kann aber nichts nachlegen. Der Markt aber lebt immer von der Erwartung künftiger Maßnahmen. 

Was aber kommt, wenn diese Phasen auslaufen? Meine Vermutung: Wir stehen vor einer Normalisierung der wirtschaftlichen und monetären Bedingungen. Die Ausnahmesituation mit all den Maßnahmen zur Bekämpfung der Folgen der Finanz- und Eurokrise geht zu Ende. Wir kommen wieder in vernünftigere Fahrwasser. Ich hatte das im März schon einmal für die USA beschrieben. Jetzt zeigt es sich aber auch hier an verschiedenen Indikatoren. 

Einer ist die Inflationsrate. Die Deflationsängste, die uns noch zu Jahresanfang beschäftigt haben, sind vorbei. Die Verbraucherpreise steigen wieder. Die Zunahme ist noch sehr gering (zuletzt 0,3%). Die Entwicklung geht aber in die richtige Richtung. Ein anderer ist der Ölpreis. Er ist im letzten Jahr um fast 50% gefallen. Das hat der Konjunktur und den Aktienmärkten sehr geholfen. Jetzt erholt er sich. Er bewegt sich wieder in Größenordnungen, die tragfähiger sind und länger anhalten könnten. 

Der Wechselkurs des Euro hatte sich als Folge der Eurokrise und der expansiven Maßnahmen der Geldpolitik stark abgewertet. Jetzt scheint er sich auf niedrigerem Niveau zu fangen. Manch einer denkt schon, dass er sich aufwerten könnte. Die Eurokrise nähert sich dem Ende. Zwar geht es mit Griechenland nach wie vor hoch her. Die Programmländer Irland und Portugal stehen jedoch wieder auf eigenen Beinen. Spanien wächst wieder mit 3%. Italien und Frankreich haben begriffen, dass sie um Reformen nicht herumkommen. 

Sogar die langfristigen Zinsen sind in Bewegung gekommen. Sie haben sich von fast Null auf zeitweise 1% erhöht. Das war zwar zunächst nur eine der üblichen hektischen Marktschwankungen. Die Zinsen sind auch jetzt noch sehr niedrig. Aber auch das geht in die richtige Richtung. Schließlich zieht die Konjunktur an. Der Aufschwung ist zwar nicht überschwänglich. Aber weil es zum Beispiel in Deutschland an freien Kapazitäten fehlt, führt er zu Engpässen am Arbeitsmarkt und zu einer stärkeren Erhöhung der Löhne. 

All das ist noch sehr spekulativ. Manch einer wird Zweifel äußern, ob man daraus schon weiterreichende Schlussfolgerungen für die Entwicklung der Märkte ziehen darf. Ich widerspreche dem nicht. Ich meine nur, dass man darüber einmal nachdenken sollte.

Für den Anleger ergibt sich eine zwiespältige Schlussfolgerung. Aus übergeordneter Sicht ist das alles zu begrüßen. Wenn es wirklich so kommen sollte, würden Ungleichgewichte abgebaut. Wirtschaft und Finanzmärkte kämen langsam wieder auf die Beine und könnten ohne die Hilfen vor allem der Geldpolitik wieder leben. Der Anlagenotstand mit den ultraniedrigen Zinsen ginge irgendwann zu Ende. Die „Nachkrisenzeit“ wäre vorbei. 

Auf der anderen Seite werden sich die Märkte in Zukunft nicht mehr so positiv entwickeln. Die Übertreibungen der Geldpolitik in der Vergangenheit waren Gold für die Märkte. Sie trieben die Bewertung der Aktienmärkte an das obere Ende des noch Vertretbaren. Wenn es jetzt sein sollte, dass sich die Geldpolitik normalisiert, dann müssen sich auch die Märkte normalisieren. Das Kursniveau würde sinken. Wenn es das nicht tut, dann muss sich zumindest das Wachstum der Kursindizes verringern (auf vielleicht 6 bis 8% pro Jahr). Zweistellige Renditen an den Aktienmärkten würden der Vergangenheit angehören.

Dr. Martin Hüfner
Volkswirtschaftlicher Berater
direktanlage.at & Assenagon Asset Management


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