Tag der Deutschen Einheit: „Die Wachstumslokomotive Europas ist zu einer rostenden Dampflok geworden“

Deutschland steht vor einer historischen wirtschaftlichen Herausforderung: Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg könnte die Wirtschaftsleistung drei Jahre in Folge schrumpfen. Im Interview mit e-fundresearch.com spricht Dr. Harald Preißler, Kapitalmarktstratege und Aufsichtsratsvorsitzender der Bantleon Invest AG über die strukturellen Probleme der deutschen Industrie, die Rolle der Energiepolitik und notwendige Maßnahmen, um die wirtschaftliche Erholung und Stabilität zu fördern. Markets | 02.10.2024 15:22 Uhr
Dr. Harald Preißler ist Kapitalmarktstratege sowie Aufsichtsratsvorsitzender der BANTLEON Invest AG, Hannover, und Vizepräsident des Verwaltungsrates der BANTLEON AG, Zürich / © e-fundresearch.com / BANTLEON
Dr. Harald Preißler ist Kapitalmarktstratege sowie Aufsichtsratsvorsitzender der BANTLEON Invest AG, Hannover, und Vizepräsident des Verwaltungsrates der BANTLEON AG, Zürich / © e-fundresearch.com / BANTLEON

e-fundresearch.com: Herr Preißler, zum Tag der Deutschen Einheit stellt sich die Frage: Wie sehen Sie die aktuelle wirtschaftliche Lage Deutschlands im internationalen Vergleich?

Dr. Harald Preißler: Deutschland ist das einzige Industrieland, das im Jahr 2023 eine rückläufige Wirtschaftsleistung ausweisen musste - und dieser traurige Rekord könnte sich im laufenden Jahr wiederholen. Da die Wirtschaft bereits 2022 wegen des Energiepreisschocks in eine Rezession gestürzt war, dürfte Deutschland zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkrieges in drei aufeinander folgenden Jahren geschrumpft sein. Die einstige Wachstumslokomotive Europas hat sich zu einer rostenden Dampflok gewandelt.

Besonders dramatisch ist die Entwicklung in der deutschen Industrie. Die Produktion befindet sich bereits seit 7 Jahren in einem Abwärtsstrudel. In realer Rechnung wurde im August 2024 knapp 16% weniger produziert als am historischen Höhepunkt im November 2017. Damit befindet sich der Output aktuell auf demselben Niveau wie im Jahr 2006. Zum Vergleich: In der Schweiz und in Österreich ist die Produktion im gleichen Zeitraum um 50% gestiegen. Der absolute und relative Abstieg ist ganz wesentlich auf die Krise der Automobilindustrie und ihrer Zulieferer zurückzuführen. 

e-fundresearch.com: Welche strukturellen Herausforderungen sehen Sie für die deutsche Industrie, insbesondere in Schlüsselbranchen wie der Automobil- und Chemieindustrie?

Dr. Harald Preißler: Deutschland ist mit einem Anteil der industriellen Wertschöpfung von rund 25% Spitzenreiter unter den hochentwickelten Ländern. In Frankreich oder Großbritannien liegt der Anteil mit 15% deutlich tiefer. Die starke Position der deutschen Industrie war das Ergebnis der Ingenieurskunst, der hohen Standortqualität insbesondere im Bereich der Verkehrsinfrastruktur sowie günstiger Energie dank russischem Gas. Diese Vorteile sind über die Jahre erodiert und im Bereich der Energieversorgung regelrecht kollabiert. 

Der über Jahrzehnte erworbene Technologievorsprung in der hochkomplexen Motoren- und Getriebetechnik ist bei E-Autos hinfällig. Die Konkurrenz aus China verfügt vor allem bei der Batterietechnik über Kosten- und Wettbewerbsvorteile und ist daher auf der Überholspur unterwegs. Die deutsche Automobilindustrie wird zwar nicht untergehen, aber international und national erheblich an Bedeutung verlieren. 

Die chemische Industrie zählt zu den energieintensiven Branchen, die seit dem Energiepreisschock von 2022 besonders tief in der Krise stecken. Die Unternehmen werden Kapazitäten in Deutschland abbauen und stattdessen ins Ausland abwandern. Aus Sicht der aktuellen klimapolitischen Doktrin ist dies der unvermeidliche Preis für die Annäherung an das Ziel der Klimaneutralität bis 2045.

e-fundresearch.com: Inwieweit spielt die Energiepolitik eine Rolle in der derzeitigen wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands?

Dr. Harald Preißler: Die Energiepolitik ist in Deutschland das schärfste Schwert der Klimapolitik. Im Vordergrund steht gegenwärtig der Ausbau der erneuerbaren Energien, die für sich genommen wegen fehlender Speicherkapazitäten und der sogenannten Dunkelflauten keine Versorgungssicherheit gewährleisten können. Die Versorgungslücke müssen ausgerechnet fossile Gas- und Kohlekraftwerke schließen, die flexibel Energie in die Netze einspeisen können. Diese groteske Konzeption zeigt, dass die Klimaideologie über wirtschaftlichen Interessen steht – das muss man sich leisten können. Die Folge sind hohe und in Zukunft weiter steigende Strompreise, die für die Industrie im Allgemeinen und die energieintensiven Branchen im Besonderen eine international konkurrenzfähige Produktion nicht mehr zulassen. In vielen Fällen bleibt den Unternehmen nur die Abwanderung ins Ausland, wobei vor allem Asien und die USA mit günstigen Industriestrompreisen locken. Davon betroffen sind auch die vor- und nachgelagerten Branchen, die ihrerseits zur Verlagerung von Fertigungskapazitäten ins Ausland gezwungen sind. Damit gehen hochproduktive und gut bezahlte Arbeitsplätze verloren. Die Deindustrialisierung ist daher keine Kampfparole industrieller Lobbyverbände, sondern traurige Realität. 

e-fundresearch.com: Welche Reformen halten Sie für notwendig, um die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands langfristig zu sichern und eine wirtschaftliche Erholung zu ermöglichen?

Dr. Harald Preißler: Zuvorderst wäre ein ausgewogeneres klimapolitisches Konzept zu wünschen, das den Ausstieg aus fossilen Energieträgern und die zuverlässige Versorgung mit günstiger Energie nicht zum unauflösbaren Widerspruch erklärt, sondern als wirtschaftspolitisch nachhaltigen Weg in eine klimaneutrale Zukunft definiert.  

Außerdem ist eine breit angelegte Investitionsoffensive in die Erneuerung der maroden Infrastruktur vonnöten. Dafür ist eine Lockerung der Schuldenbremse ebenso unumgänglich wie die Entbürokratisierung von Genehmigungsverfahren. Ferner muss der Fachkräftemangel aktiv bekämpft werden, indem Arbeitnehmer incentiviert werden, auch nach Erreichen des Renteneintrittsalters einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachzugehen – etwa über höhere steuerliche Freibeträge oder Zuschläge bei den Altersbezügen. Auch die zielgerichtete Integration von Migranten in den Arbeitsmarkt wäre ein wirksames Instrument gegen den Arbeitskräftemangel, das aber regelmäßig an bürokratischen Hürden scheitert. Je mehr ältere Arbeitnehmer und Migranten am Erwerbsleben teilhaben, umso wahrscheinlicher kann ein Kollaps des Sozialversicherungssystems infolge der ungünstigen demografischen Entwicklung der vergangenen sechs Jahrzehnte verhindert werden.  

e-fundresearch.com: Wie bewerten Sie die Aussichten für die deutsche Wirtschaft in den kommenden Jahren, insbesondere im Hinblick auf mögliche Trendwenden ab 2025?

Dr. Harald Preißler: Das reale Wachstumspotenzial der deutschen Wirtschaft nimmt beständig ab und dürfte nur noch knapp über 0,5% p.a. liegen. Neben der rückläufigen Erwerbsbevölkerung ist dafür vor allem das gleichfalls abnehmende Produktivitätswachstum ursächlich. Durch die forcierte Abwanderung hochproduktiver Branchen werden vermehrt Arbeitskräfte in weniger produktive Sektoren umgeleitet – aktuell vor allem in die öffentliche Verwaltung. Dadurch wird das Wachstumspotenzial künftig weiter abnehmen. Die Folge davon ist, dass bereits kleine konjunkturelle Durchhänger der wichtigsten Handelspartner ausreichen, um die deutsche Wirtschaft in eine Rezession zu drücken. Der mittel- bis längerfristige Ausblick ist damit klar negativ. Allerdings verläuft der Abstieg  nicht linear, sondern in Wellen, die von temporären Zwischenerholungen unterbrochen werden. Von solch einer Gegenbewegung sollte das Jahr 2025 gekennzeichnet sein., die seit 2022 anhaltende rezessive Phase dürfte mithin zu Ende gehen. Steigende Realeinkommen und günstigere Finanzierungskonditionen infolge der geldpolitischen Lockerungen der EZB dürften ausreichenden konjunkturellen Rückenwind erzeugen, um das Wachstum über die 1,0%-Marke zu hieven. Von Dauer dürfte dies in Anbetracht der oben erwähnten strukturellen Belastungsfaktoren allerdings nicht sein. 

e-fundresearch.com: Vielen Dank für das Gespräch und einen schönen Feiertag, Herr Preißler!

Über Dr. Harald Preißler:

Dr. Harald Preißler ist Kapitalmarktstratege sowie Aufsichtsratsvorsitzender der Bantleon Invest AG, Hannover, und Vizepräsident des Verwaltungsrates der Bantleon AG, Zürich. 

Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität Würzburg mit den Schwerpunkten Geldpolitik, Konjunktur- und Wachstumstheorie, mathematische Wirtschaftstheorie sowie empirische Wirtschaftsforschung arbeitete Harald Preißler zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Würzburg und Ulm. Noch während seiner Promotion zum Dr. rer. pol., die er mit »summa cum laude« abschloss, begann er 1999 als Senior Analyst bei Bantleon in der Schweiz. Im Jahr 2001 wurde er zum Leiter der Kapitalmarktanalyse, 2005 zum Chefvolkswirt und 2010 zum Chief Investment Officer (CIO) ernannt. Ende 2017 gab Harald Preißler seine Aufgaben als Chefvolkswirt ab, um sich als CIO auf den weiteren Ausbau des Anlagemanagements zu konzentrieren, im September 2018 wechselte er als Vizepräsident in den Verwaltungsrat der Bantleon Bank AG, die im Mai 2022 in die Bantleon AG umfirmiert wurde. Im August 2023 wurde er zudem in den Aufsichtsrat der Bantleon Invest AG gewählt, dessen Vorsitz er im Oktober 2024 übernommen hat. In diesen Funktionen ist er für die strategische Weiterentwicklung des Asset Managers Bantleon verantwortlich.

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