Der Espresso vor mir ist längst kalt. Während der Zug von Graz nach Wien über den Semmering rumpelt, wirkt die Fahrt fast wie eine nostalgische Bummelzugreise. Und doch weiß ich: In wenigen Jahren, wenn der Tunnel eröffnet ist, wird dieselbe Strecke in ganz anderem Tempo zu bewältigen sein. Auch wenn ich diese Phase herbeisehne, werde ich wohl eines fernen Tages an die gute alte Zeit zurückdenken. Für mich ist das ein Sinnbild für die Finanzmärkte: Lange scheint alles beim Alten zu bleiben – bis sich die Rahmenbedingungen plötzlich grundlegend verschieben und nichts mehr so ist wie zuvor.
Zinsen: Trump drängt, Powell liefert
In Washington geht der Schlagabtausch in die nächste Runde. Jerome Powell hat geliefert und die Leitzinsen erwartungsgemäß um 0,25 Prozent gesenkt. Ob das dem lieben Donald genügen wird, wage ich allerdings zu bezweifeln. Für Trump ist die Sache einfach: Je niedriger die Zinsen, desto günstiger verschuldet sich der Staat, desto leichter bekommen Unternehmen und Haushalte Kredite. Mehr Geld im Umlauf bedeutet mehr Konsum, mehr Investitionen – und damit ein kräftiger Schub für die Wirtschaft.
Europäische Aktien im Aufwind: Mit Low-Volatility- und Small Cap-Fonds effizient Marktchancen nutzen
Europäische Aktien stehen nach einem langen Dornröschenschlaf nun wieder verstärkt im Fokus der Investoren – das zeigen aktuelle ETF-Zuflüsse in diese Anlageklasse und das Verhalten großer Marktteilne...Powell sieht aber auch die Kehrseite. Billiges Geld wirkt wie ein doppelter Espresso: kurzfristig belebend, doch bei zu vielen Tassen wird einem irgendwann schwindelig. Niedrige Zinsen kurbeln nicht nur die Nachfrage an, sie heizen auch die Inflation an. Wenn alles teurer wird, müssen Unternehmen höhere Löhne zahlen, die Preise steigen weiter. Eine klassische Lohn-Preis-Spirale droht. Für die Notenbank ist das ein Balanceakt zwischen Konjunkturdynamik und Geldwertstabilität – mit offenem Ausgang.
Österreich: Prognose mit Beigeschmack
Und wie steht’s daheim? Die OeNB erwartet für 2025 ein Wachstum von 0,3 Prozent, für 2026 rund 0,8 Prozent und für 2027 etwas über der 1-Prozent-Marke. Prognosen also, die auf eine langsame Erholung hindeuten. Wir sprechen hier aber nicht von einem Boom, sondern von einem Konjunkturmotor, der eher stottert als brummt. Gleichzeitig lag die Inflation im August noch bei 4,1 Prozent. Für Sparer ist das bitter: Nominell ist das Geld am Sparbuch zwar „sicher“. Real – also inflationsbereinigt – verliert es Jahr für Jahr an Wert. Wer diesen stillen Kaufkraftverlust vermeiden möchte, kommt an einer Beimischung von Aktien nicht vorbei.
Globale Kapitalströme: Afrika und Fernost im Aufwind
Europa hat im globalen Wettbewerb deutlich an Attraktivität verloren. Laut World Investment Report 2025 sind die weltweiten Direktinvestitionen im Vorjahr um 11 Prozent gesunken – in Europa sogar um 58 Prozent. Das Geld der Investoren fließt derzeit woanders hin. Afrika hingegen verzeichnete ein Plus von 75 Prozent, auch Indien und Brasilien zählen zu den größten Gewinnern. Investoren können daran teilhaben, auch ohne direkt in Lagos oder São Paulo aktiv zu werden. Globale Fonds oder ETFs reichen aus, denn große Konzerne erwirtschaften heute bereits rund ein Viertel ihrer Gewinne in Schwellenländern. Wer also in einen weltweiten Aktienfonds investiert, hat automatisch Anteil an diesen Wachstumsmärkten.
TikTok: Vom China-Stolz zum US-Aushängeschild?
Und dann ist da noch TikTok. Die App ist für Jugendliche längst das, was früher MTV oder Facebook war – ein Fixpunkt im Alltag. Noch ist TikTok chinesisch, doch ein Abkommen sieht vor, dass ein US-Konsortium künftig 80 Prozent übernimmt. Ein Beispiel dafür, wie eng Technologie, Politik und Kapitalmarkt verflochten sind. Am Ende geht es nicht nur um kurze Videos, sondern um Daten, Einfluss und Milliarden. Und es zeigt, dass geopolitische Machtkämpfe mittlerweile direkten Einfluss auf Unternehmenswerte haben.
Kurz bevor ich den Wiener Hauptbahnhof erreiche, denke ich mir: Wirtschaft und Finanzmärkte gleichen tatsächlich einer Zugfahrt über den Semmering. Mal geht es rauf, mal geht es runter, immer wieder wird heftig diskutiert. Der Zinseszins braucht seine Zeit, wie ein Tunnel seine Baujahre. Und plötzlich verändert sich das Tempo fundamental. Die Frage bleibt: Sitze ich im richtigen Zug?
Dr. Josef Obergantschnig, Gründer, Obergantschnig Management GmbH & e-fundresearch.com Gastkolumnist
Dr. Josef Obergantschnig ist anerkannter Kapitalmarktexperte, Unternehmer, Autor und ehemaliger Chief Investment Officer eines Asset Managers. In der Führungsebene der NIXDORF Kapital Unternehmensgruppe hat er seine Expertise in den Bereichen Strategie, Finanzen und Nachhaltigkeit eingebracht, um das Thema Impact-Investing weiter voranzutreiben.
Ein besonderes Anliegen war es ihm, seinen jahrzehntelangen Erfahrungsschatz nicht nur an Finanzexperten und Privatpersonen, sondern vor allem auch an junge Menschen auf unterhaltsame Weise weiterzugeben.
Keynote Speaker: www.josefobergantschnig.at
Weitere Informationen unter: www.ecobono.com / www.obergantschnig.at
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